Warum an Hochschulen häufig nur über Noten kommuniziert wird
Aus den Hochschulen wird berichtet, dass Studenten zwar nicht selten bis zu ihrem Abschluss mehr als fünfzehn Noten bekommen, ihnen aber kein einziges Mal mitgeteilt wird, auf welcher Einschätzung die Notengebung basiert. Studenten sind überrascht, wenn ihnen im Gutachten zur Bachelorarbeit erklärt wird, dass man für die Gliederung einer wissenschaftlichen Arbeit nicht wie in der Schule lediglich die Überschriften „Einleitung“, „Hauptteil“ und „Schluss“ wählen sollte und melden dann frustriert zurück, dass sie das in zehn Hausarbeiten auch so gemacht haben, ohne dass ihnen jemals zu verstehen gegeben wurde, dass das so nicht gehe.
Während es in Seminaren und Übungen zu einem intensiven Gespräch zwischen Studierenden und Lehrenden kommt, scheint bei der Auseinandersetzung über die Stärken und Schwächen schriftlicher Arbeiten ein auffälliges Schweigen zu herrschen. Sicherlich – es gibt in jedem Institut Lehrende, die viel Wert darauf legen jede schriftliche Ausarbeitung ausführlich zu kommentieren. Aber in vielen Fällen gibt es eine einzige sehr kompakte Kommunikationsform, um die Einschätzung der Stärken und Schwächen der Arbeit zu kommunizieren – das Vergeben einer Note.
Man kann eine Note als geeignete Form der Rückmeldung betrachten. Sie ist eine kompakte quantitative Einschätzung einer Leistung, ermöglicht eine Vergleichbarkeit mit anderen Studierenden, die die gleichen Leistungen erbringen müssen, und erlaubt eigene Leistungsverbesserungen oder -verschlechterungen festzustellen, wenn die Beurteiler und Beurteilungsgrundlagen zeitlich konstant bleiben. Lernen kann aber erst dann stattfinden, wenn die Studierenden wissen, auf welcher Grundlage diese Note bestimmt wurde. Genau diese Unterfütterung findet an Hochschulen überraschend selten statt. Woran liegt dies?
Die zentrale Ursache liegt in der Einführung von Campus-Management-Systemen an den Hochschulen. In diesen IT-Systemen werden die relevanten Informationen zur Bewerbung, Zulassungen und Verwaltung von Studierenden, zur Planung der Studiengänge, zur Zuweisung von Räumen, zur Anmeldung zu Lehrveranstaltungen und Prüfungen und zur Verbuchung von Leistungen abgebildet. Aufgrund der IT-Systeme müssen die Noten für Studien- und Prüfungsleistungen von den Lehrenden oder ihren Sekretariaten in die IT-Systeme eingepflegt werden. Die Studierenden werden dann durch einen Blick in ihr Studienkonto oder über ein Email darüber informiert, dass sie eine Note für ihre Prüfungsleistung erhalten haben. Eine weitere Information zusätzlich zur Note ist nicht nötig und auch nicht vorgesehen.
Man darf die Zeit vor der Einführung der Campus-Management-Systeme nicht verklären. Auch wenn man sich einen „Schein“ für das Studienbuch beim Lehrenden abgeholt hat, kam es nicht zwangsläufig zu einer detaillierten Rückmeldung zu der Arbeit. Aber häufig waren den Scheinen die Arbeiten mit den Kommentaren der Lehrenden angehängt und nicht selten ergab sich wenigstens ein kurzes Gespräch über Verbesserungsmöglichkeiten. Die Schaffung von solchen mehr oder minder zufälligen Kontaktflächen im Anschluss an die Fertigstellung einer Arbeit wurden durch die Einführung von Campus-Management-Systeme eliminiert. Stattdessen dominiert eine softwarebasierte Kontaktentmutigung bezüglich des Austausches über die Qualität der Arbeit.
Die Standardreaktion von Lehrenden auf diese fehlende Rückmeldung zu schriftlichen Arbeiten besteht in einem Verweis auf die „Hol-Pflichten“ der Studierenden. Studierende seien, so die Auffassung, ja selbst schuld, wenn sie sich bei den Lehrenden keine Rückmeldung zu ihren Arbeiten holen würden. Diese Haltung geht aber von einem interaktionssoziologisch naiven Verständnis von Sprechstunden aus.
Die Forschung zeigt, dass Sprechstunden für Studierende – und nicht selten auch für Lehrenden – eine Stresssituation sind, die man möglichst vermeidet. Den Interaktionsstress mag man in Kauf nehmen, wenn man eine Fragestellung festlegt und eine Arbeit konzipiert. Aber der Anreiz, nach dem Feststehen einer Note beim Dozenten nach den Stärken und Schwächen einer Arbeit zu fragen, die vermutlich nach der Benotung schon im Papierkorb des Lehrenden gelandet ist und an den sich der Lehrende nur noch grob erinnert, ist gering.
Angesichts des, durch die fehlenden Rückmeldungen bedingten, Qualitätsverlustes wird in vielen Instituten, Fachbereichen und Fakultäten auf eine verstärkte Schulung in wissenschaftlichen Arbeitsweisen gesetzt: es werden Einführungsveranstaltungen aufgesetzt, in denen auch das Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten vermittelt werden soll; Tutorien zu Techniken wissenschaftlichen Arbeitens werden als freiwilliges Angebot eingeführt oder Studierende an Schreiblabore verwiesen, in denen sie ihre Schreibprobleme bearbeiten können.
Das Problem all dieser Unterstützungsformate ist jedoch, dass sie nicht systematisch an den Schreibprozess in den Veranstaltungen eines Studiengangs rückgebunden sind. Die Einführungsveranstaltungen sind häufig zu früh, um systematisch an einer Verbesserung der eigenen Schreibfähigkeiten zu arbeiten. Die Tutorien wissenschaftlichen Arbeitens ähneln häufig Trockenschwimmübungen, in denen bestenfalls exemplarische Fälle herangezogen werden. Die Angebote der Schreiblabore leiden darunter, dass sie nur schwerlich Bezug auf die spezifischen Anforderungen in einem Fach nehmen können.
Die Auslagerung des Problems in Service-Einrichtungen hat Ähnlichkeiten mit der Vorstellung, dass man Autofahren allein durch einen Theorieunterricht lernen kann. Es mag hilfreich sein, wenn man die Verkehrsregeln über Powerpoint-Präsentationen erklärt bekommt und sich Videos über typische Gefahren im Straßenverkehr anschaut, aber das Autofahren lernt man nur dadurch, dass man in praktischen Fahrstunden immer wieder korrigiert wird. Und genauso lernt man das Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten, nicht über die Lektüre von Handreichungen und Präsentationen über Zitationsformen, sondern nur durch die Überarbeitung von Arbeiten aufgrund der Kritik von anderen Studierenden und betreuenden Lehrenden.
Die fehlenden Rückmeldungen können nicht mit einer Überlastung von Lehrenden erklärt werden. Wenn man davon ausgeht, dass Lehrende die Noten nicht auswürfeln, dann ist die Hauptarbeit – nämliche die Lektüre und Einschätzung der Arbeit – ja sowieso geleistet. Es ginge also nur darum einen Weg zu finden, diese Einschätzung den Studierenden mitzuteilen. Wege für diese Rückmeldungen sind vielfältig – Anmerkungen auf den Arbeiten, Emails an die Autoren, verpflichtende Sprechstunden, Konferenzen mit der Besprechung aller Arbeiten oder Diskussion der Arbeiten in folgenden Seminaren.
Aber vermutlich reicht die Existenz solcher Rückmeldungskanäle nicht aus, um die Kontaktentmutigung durch die Campus Management Systeme zu überwinden. Vermutlich wird es eine neue Routine brauchen, mit der eine ausführliche Rückmeldung zu jeder schriftlichen Arbeit sichergestellt werden kann. Angesichts des Trends zur Digitalisierung wird die Lösung vermutlich darin gesucht, in das Campus Management System ein Feld einzufügen, in denen die Lehrenden ankreuzen müssen, dass eine ausführliche Rückmeldung stattgefunden hat. Der Effekte wird dann aber wahrscheinlich darin liegen, dass dieses Feld schematisch mit der Notengebung angekreuzt wird.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschien von ihm „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus 2020).