„Keine Steine!” – über die Entscheidungsprobleme der Aktivist*innen in Lützerath

Die Räumung Lützeraths ist vorbei; die Diskussion um das Geschehene allerdings noch lange nicht. Ein Protestmittel, welches besonders seit Beginn der Proteste die Bilder prägte und in der Kritik stand, waren Steine. Steine, die auf das Einsatzpersonal der Polizei flogen. Nicht nur Polizei und Politiker*innen verurteilten dies scharf. Laut Videos in den sozialen Medien riefen auch die Protestierenden immer wieder „Keine Steine!“, sobald diese in Richtung Einsatzpersonal flogen.

Friedlichkeit siegt

Warum versuchten auch die Prostierenden aktiv, dies zu unterbinden? Für die Protestbewegung bedeuteten diese Steine neben ihrer moralischen Verwerflichkeit vor allem eins: Erfolgsgefahr. Proteste leben von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aktionen, die skandalisieren und viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind ihr Lebenselixier. Überraschende Aktionen mit viel Masse und Wucht sind ihre Spezialität. Prägen Bilder von Gewaltaktionen – wie hier die fliegenden Steine – das Image der Proteste in den Massenmedien, besteht die Gefahr, Solidarität in der Bevölkerung zu verlieren. Doch diese ist essenziell für den Erfolg von Protestbewegungen. Bestenfalls müssen Proteste also die Entscheidung treffen, lediglich friedlichen Widerstand zu leisten, um keine Körperverletzung von Einsatzpersonal und womöglich Aktivist*innen zu riskieren. Und hier wird es spannend: Warum fällt diese Entscheidung der Protestbewegung so schwer? Der Grund liegt nicht etwa am mangelnden Willen oder der Qualität eines Protests. Er liegt in seiner Struktur.

Vorteile von Organisationen

Organisationen, wie sie in Lützerath in Form der Polizei auftritt, haben gegenüber Protestbewegungen einen strukturellen Vorteil: Sie können verpflichtende Erwartungen stellen: Wenn man in ihnen Mitglied ist, hat man sich an formale Bedingungen zu halten, denen man mit Eintritt in die Organisation zustimmt: Sie beinhalten, seine Handlungen an den Zielen der Organisation und nicht an seine eigenen Überzeugungen anzupassen: Selbst wenn es also in Lützerath anwesende Polizist*innen gab, die sich emotional mit den Protestierenden solidarisierten, so musste dies privat bleiben. Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge leisten, egal was sie gerade darüber denken. Und mit Rückblick auf die Proteste ist dies auch nicht passiert: Bislang ist kein Fall von Dienstverweigerung seitens der Polizist*innen bekannt. Denn diese hätte für sie folgenreiche Sanktionen – schlimmstenfalls die Kündigung und sogar rechtliche Schritte.

Anhänger statt Mitglieder

Bei den Protestierenden war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren gerade wegen ihrer persönlichen Meinung anwesend und übten Protest. Die Aktivist*innen waren dabei bedeutend weniger an die Erwartungen einer überstehenden Instanz gebunden. Dabei waren Ermahnungen zur Friedlichkeit von eigenen Führungspersonen vermutlich prägend, wenn die Protestierenden diese jedoch nicht umsetzen wollten, griff kein Sanktionsmechanismus wie bei der Polizei – die Protestierenden waren nämlich statt Organisationsmitglieder lediglich Anhänger des Protests. Als solche konnten sie sich selbst Aufgaben und die Art ihres Protests aussuchen – auch wenn ethisch verwerfliches Fehlverhalten vorliegt, mussten sie nicht mit einem Rausschmiss rechnen. Denn erstens zählte für die Protestbewegung immer noch jede Person, die sich mit ihrem Körper der Räumung Lützeraths entgegensetzen kann. Und außerdem gab es keinen Sanktionshebel: Kein*e Aktivist*in konnte von der Protestbewegung selbst dem Gelände verwiesen werden, weil es keine formal beglaubigte Instanz gab, die dies entscheiden konnte. Eine Anhängerschaft hat jedoch auch Vorteile gegenüber der Mitgliedschaft: Wegen ihres leichten Einstiegs schaffen es Bewegungen gegenüber Organisationen nahezu unbegrenzt Anhänger rekrutieren zu können. Auch wenn die Polizei NRW weiterhin Einsatzkräfte aus ganz Deutschland mobilisiert hat – die Protestierenden schafften es doch mehr Menschen als erwartet nach Lützerath zu bringen. Diese Menschen ließen sich bei der Umsetzung des Protestes zwar strategisch nicht auf einen Nenner bringen. Aber es waren doch Menschen, die alle die gleichen Werte und vor allem das gleiche Ziel verfolgten. Dass es die Protestierenden es deshalb schafften, trotz Polizeikette zu dem Tagebau vorzudringen, war wenig überraschend.

Und nun?

Anhänger der Protestbewegung versus Mitglieder der Polizei. Wer hat gewonnen und wie geht es weiter? Auf beiden Seiten gab es Verletzte; auch Gewaltvorwürfe seitens der Medien treffen beide Parteien. Dennoch ist das Kernziel der Polizei erreicht: Lützerath ist geräumt. Aber: trotz Regen und tiefen Matsch sind Tausende mehr zu den Protesten gekommen, als erwartet wurden. Und Aktivist*innen setzen nun ihren Protest außerhalb von Lützerath an Kohlebaggern, Bahnschienen und politischen Gebäuden fort. Außerhalb des abgesperrten Bereiches in Lützerath finden weitere Demonstrationen statt. Es wird also auch zukünftig spannende Aufeinandertreffen von Polizei und Aktivist*innen geben. Und wer ist dann im Vorteil? Nun, die Eigenschaften von Protestbewegungen versus formale Mitglieder bei der Polizei werden bleiben. Die Polizei wird auch weiterhin Vorteile besitzen, wenn es um ein entschiedenes und einheitliches Auftreten geht. Aber auch die Protestierenden werden ihre Stärken behalten: Schnelles und eindrucksvolles Vorgehen kann für Überraschungen sorgen und die Spontanität der Polizist*innen strapazieren. Nun liegt es an dem Umfang und der Art des Protestes, inwiefern die Aktivist*innen in der Lage sind, mithilfe von störenden, aber friedlichen, Aktionen Aufmerksamkeit und Solidarität in der Bevölkerung zu sammeln und schließlich gesellschaftlich ihr Bild so zu prägen, dass Druck auf politische Entscheidungen ausgeübt werden kann.

3 Kommentare

  1. Christopher Temt sagt:

    Interessanter Artikel, einzig Sie vermischen Formen des Protests mit der „Direkten Aktion“.

    Protest ist eine gesetzliche Formen (Recht) des politischen Widerstandes und bestehen aus Demonstrationen und Streik. Sie sind meist hierarchisch organisiert und fordern ein bestimmtes Handeln des Staates bzw von Organisationen ein. Sie sind Machtdemonstrationen im Sinne von Massen, wobei die Polizei meist die Demonstrierenden zu einem bestimmten Zeitpunkt, die Demonstrierenden alle, auch die die später gekommen oder früher gegangen sind, zählen.

    Der Protest außerhalb von Lützerath an Kohlebaggern, Bahnschienen und politischen Gebäuden ist kein Protest, sondern Direkte Aktion, die keine Massen erfordern, sondern eine kleine Gruppe von Aktivisten, die kreativ den Staat oder Organisationen de-legitimieren wollen und sich dafür anarchistischer Methoden bedienen.

    Ein Standardwerk und an sich ein Muss für jeden Soziologen, die sich mit dem Widerstand beschäftigt ist das Buch „Direkte Aktion – Ein Handbuch“ von David Graeber
    https://www.morawa.at/detail/ISBN-9783894017750/Graeber-David/Direkte-Aktion

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    johnson philip              

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