Der Placebo-Effekt des politischen Systems

Über die „zivilisierende“ Wirkung der Ökonomisierung von unlösbaren Problemen

Wer kennt das Problem nicht: Es ist Ende des Monats und das Konto ist leer? Jeder Ökonom hat dafür eine rationale Lösung. Kostendeckung heißt das böse Wort, das uns für das leidende Sparen in der Gegenwart den erlösenden Konsum in der Zukunft verspricht. Für das politische System bestehen die gleichen, restriktiven Kalküle wie in privaten Haushalten und wirtschaftlichen Organisationen. Für den Staat als politische Organisation lauten die zwei Prinzipien der Kostendeckung: Steuern rauf oder Ausgaben runter. Doch wie soll ein moderner Wohlfahrtsstaat über die Bedingungen von Zahlung und Nicht-Zahlung entscheiden, wenn seine Maxime in einer pareto-optimalen Wohlfahrtssteigerung besteht?

Zur Erklärung des Dilemmas der Anspruchsinflation lohnt sich der Blick auf die Differenzierungsmuster des politischen Systems. Nach Niklas Luhmann stellt funktionale Differenzierung die Primärdifferenzierung des Gesellschaftssystems dar. Für das dadurch ausdifferenzierte politische System folgt auf einer zweiten Ebene eine segmentäre Differenzierung in Nationalstaaten, die die Politik an die regionalen Besonderheiten anpasst. Auf einer dritten Ebene bildet sich das Muster von Zentrum (Parlament, Regierung, Ministerialbürokratie) und Peripherie (politische Parteien und Interessenorganisationen). Dieses politikinterne Differenzierungsmuster kann nur über die fortlaufende Entscheidungskommunikation von Organisationen hergestellt werden und dient der Komplexitätsreduktion und -steigerung von Entscheidungsfähigkeit: Während der Staat als Zentralorganisation kollektiv bindende Entscheidungen setzt, tastet die Peripherie Themen auf ihre politischen Entscheidungsmöglichkeiten ab und versucht diese zu Konsenschancen zu verdichten. Nicht Zentrum zu sein, entlastet die Peripherie von Verantwortung der kollektiv bindenden Entscheidungsdurchsetzung, ohne dass sich die hier tätigen Organisationen von Handlungs- und Erfolgsdruck freimachen könnten.

Der Haupteffekt der Differenzierung von Zentrum und Peripherie ist, dass das Zentrum aus der Peripherie mit einer Vielzahl von inkonsistenten Entscheidungsanforderungen konfrontiert wird. Der Vorteil besteht darin, dass die Politisierung von Themen nicht vorab an eine rationale Problemlösung gebunden ist (Varietät). Andererseits reagiert das Zentrum auf die Fülle von Entscheidungsmöglichkeiten mit symbolischer Rhetorik (Redundanz). Denn: Die zur Lösung anstehenden Probleme sind unlösbare Probleme. Zum einen sind Entscheidungen und ihre Bewertung zeitinstabil und beobachterabhängig. Zum anderen sind gerade politisierte Themen unlösbar, weil sie die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems in das politische System hineinspiegeln, gleichzeitig aber darauf beruhen, dass das politische System nur ein Teilsystem dieser funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems darstellt. In der Folge etabliert sich eine Präferenz für unlösbare Probleme, weil man über diese scheinbar folgenlos reden kann. (Aber auch die Nicht-Entscheidung bleibt riskant). Die wohlfahrtsstaatliche Anspruchsinflation ist nicht nur nachfrageorientiert, sondern auch angebotsinduziert.

Der Staat als Organisation ist jedoch mehr als nur eine kommunikative Adresse. Politische Effektivität und interne Durchsetzungsfähigkeit sind unerlässliche Bedingungen. Schwächen interner Durchsetzungsfähigkeit können – ja müssen – aufgrund wachsender Komplexität zwangsläufig toleriert werden. Mit dieser Redefinition von unlösbaren Problemen in politisch lösbare Probleme sichert der Wohlfahrtsstaat seine eigene Autopoiesis: Es gibt immer etwas zu tun. Der Motor dieser operativen Aktivität ist jedoch nicht die gute Absicht der Politiker und auch nicht die Demokratie als heiliger Selbstzweck fortschrittsgläubiger Nationen. Der Auslöser liegt vielmehr in der genannten internen Differenzierung des politischen Systems. Die Gesellschaft macht sich in der Form der Kosten einer Problemlösung bemerkbar. Die Grenzen der politischen Steuerbarkeit anderer Funktionssysteme werden sichtbar. Das Verhältnis von Politik und Wirtschaft wird zum Dauerproblem. Unlösbare Probleme werden in scheinbar lösbare Fragen von Regulation und Allokation transformiert. In Analogie zum Knappheitsparadox lässt sich das Wohlfahrtsparadox beschreiben. Jede Kompensation von sozio-ökonomischen Differenzen durch Zugriff auf knappe Güter vermehrt wiederum Knappheiten an anderer Stelle (externe Effekte). Jede durchgeführte Reform erzeugt ihren eigenen Reformbedarf.

Unterstellt nun die These, dass die Verfügbarkeit wirtschaftlicher Ressourcen über die Anwendung von Politiken entscheide, nicht einen Primat der Ökonomie? Verfügt die Politische Ökonomie theoretisch und empirisch über den analytischen Mehrwert? Die Antwort ist Nein, denn im politischen System ist nur die Kommunikation anschlussfähig und politisch folgenreich, die in irgendeiner Weise Machterhalt verspricht. Während die Politik versucht, erfolgreiche Entparadoxierung von Wohlfahrtsansprüchen als eigene Entscheidungen zu „verkaufen“, werden Misserfolge extern als Gefahr auf das Publikum oder die Opposition zugerechnet. So entsteht beispielsweise das Bild eines Arbeitslosen, der nicht aktivierbar sei. Das Publikum kann dann den Schaden auf die Regierung abwälzen. Der lachende Dritte ist die Opposition, die allein als Voraussetzung für den Ab- und Aufbau von Komplexität und Kontingenz im politischen System beschrieben werden kann. In zeitlicher Dimension wird dies im Rahmen politischer Wahlen entlang der Legislaturperiode realisiert – massenmedial auch regelmäßig und am prägnantesten über Wahlumfragen. In der Sozialdimension wird Komplexität über die Unterscheidung zwischen politischen Kandidaten und in der Sachdimension über unterschiedliche Programme bearbeitet.

Nach Niklas Luhmann lassen sich in funktional differenzierten Gesellschaften alle politischen Konflikte auf Interessenkonflikte reduzieren. So schwer und folgenlos sie auch ausgetragen werden, stellen sie letztlich triviale Konflikte dar. Im Gegensatz zu ethnischen und religiösen Konflikten können sie über Wertedebatten, Geldzahlungen, Drohungen oder Gewalteinsatz vermittelt werden. Ethnische Konflikte, religiöse und Identitätskonflikte sind dagegen nicht verhandelbar. In der Situation der überdrehten Arbeit an der Lösung unlösbarer Probleme verliert zwar die politische Klasse an Glaubwürdigkeit und die Öffentlichkeit beginnt sich für private Kleinigkeiten zu interessieren, sie verhindert jedoch das Zurückfallen oder das Aufkommen fundamentalistischer Bewegungen. Hinter der Ökonomisierung von politischen Problemen kann somit eine „zivilisierende“ Wirkung festgestellt werden. Wenn die Eltern suggerieren die Taschen seien leer, wenn ein Unternehmen die Insolvenz einleitet oder wenn ein Staat regelmäßig eine einnahmen-orientierte Ausgabenpolitik verkündet, wird das gleiche Prinzip bedient: „Wo nichts ist, ist auch nichts zu holen.“ Die Ökonomisierung hält das Wohlfahrtsparadox latent und entfaltet dabei eine psychologische Wirkung; vergleichbar mit der des Placebo-Effekts. Sie wirkt ohne Wirkstoff. Der politische Protest ist gestillt ohne protestiert zu haben. Die Politikerklasse übt sich in talk ohne action. Publikum, Politik und Verwaltung erhalten jeweils ihre Dosis Opium, physisch verabreicht in Form symbolischer Rhetorik. Die Symptome sind geheilt ohne genesen zu sein. Fragt sich, wer zuerst ins Koma fällt. Aber ohne semantische Leerformeln wie Wohlfahrt, Gesundheit und Sicherheit würde sich das politische System selbst paralysieren, denn sie könnte den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprechen. Die Selbstbeschreibungen des politischen Systems sind demnach funktional und dieser entscheidende Mehrwert lässt sich nicht ökonomisieren.

 

Zum Weiterlesen

Luhmann, Niklas 2002: Die Politik der Gesellschaft. Franfurt am Main, S. 220-243.

Luhmann, Niklas 2004: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen. 4. Auflage. Wiesbaden.

 

6 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Aber diese Ökonomisierung der politischen Themen, die sich darin niederschlägt andauernd zu argumentieren, dass kein Geld da sei, scheint nicht mehr richtig zu funktionieren.

    Auf der einen Seite ist ja tatsächlich genügend Geld da (im Umlauf) – nur nicht im direkten Hoheitsbereich der (nationalstaatlichen) Politik, sondern tief in Organisationen und Strukturen der (globalisierten) Wirtschaft verankert.
    Auf der anderen Seite haben Zentralbanken wie FED oder EZB gerade so unglaublich riesige Kredite laufen, dass einem Angst und Bange werden kann.

    Diese Schieflage, vor allem, da jetzt einige der Banker nach einer Sozialisierungen der gegenwärtigen Bankenkriese rufen, ist durch die semantische Ökonomisierung der Politik kaum mehr zu vertuschen.

    Ich habe den Eindruck, dass gerade die politischen Argumente, die diese Ökonomisierung als Methode bemühen, immer weniger zivilisierend wirken, sondern genau das Gegenteil verursachen – das nämlich die Stammtische nicht mehr darüber reden, wie das System neu justiert werden muss, sondern dass sie das System komplett in Frage stellen. (Im gedruckten ‚Qualitätsjournalismus‘ findet man dazu kaum etwas aber dem gebe ich wegen Ignoranz und Hochmut auch nur noch 10 Jahre.)

    Ob also eine neue Biedermeierzeit einsetzt (bzw. die gegenwärtige weiterhin so zahm bleibt), wage ich zu bezweifeln. Vielleicht schafft es die LINKE, die ‚Nachfrage‘ der Wohlfahrtsstaatsbürger wieder in politische Bahnen zu lenken.

  2. Enno Aljets sagt:

    Wie kommst du denn darauf, dass der von dir sog. Qualitätjournalismus nicht darüber berichtet, dass es eine zunehmende Tendenz in der Bevölkerung gibt, die sagen, dass die Demokratie nicht mehr funktioniere, sie sich mit dem System nicht identifizieren können und sich grundsätzlich auch ein anderes System vorstellen können? Die Studie dr FES hat da jüngst für Aufregung gesorgt. Wir haben ja sogar darüber diskutiert. Da wundert mich die Behauptung doch.

  3. Stefan Schulz sagt:

    Naja, weil der Text (die Berichterstattung über die Studie) Leute zitierte die sagten: Es wäre doch bedenklich, wenn die ökonomische Situation der Einzelnen Auswirkungen auf die Staatsform hätten.

    Dabei hätte da ebenso stehen können (und sollen): Es ist bedenklich, dass der Wohlfahrtsstaat nicht mehr in der Lage ist, riesige bis mehrheitliche Teile der Bevölkerung entsprechende Teilhabe an der Gesellschaft zuzusichern.

    Sowas finde ich jedenfalls nirgends, vielleicht in einigen Alibirubriken, die einmal wöchentlich eingebaut werden.

    Wie Georg Schramm schon meinte; wenn man eine der Gesellschaft entsprechende Berichterstattung über ökonomische Zusammenhänge einführen wollte – müssten alle täglichen Börsenberichterstattungen durch Schuldnerberatung ersetzt werden.

  4. Enno Aljets sagt:

    Achso, ich hatte deinen Kommentar so gelesen, dass du den Journalismus kritisierst, dass er diejenigen nicht thematisiert, die das System in Frage stellen.
    Eine solche Analyse wirst du im System der Massenmedien nur ganz weit draußen am Rande der Nichtbeachtung finden. Hier zum Beispiel. Im Zentrum des Systens wird man dies vergeblich suchen. Dafür ist die Wissenschaft zuständig.

  5. […] alles muss sich in der Entscheidung repräsentieren. Ausschlaggebend für die Bearbeitung von (unlösbaren ) Problemen ist nicht die Wahl an sich oder wie viel „Wir” durch sie repräsentiert wird, […]

  6. […] Entscheidungen temporalisieren können. Dies ist zwar allgemeines und funktionales Merkmal von unlösbaren Problemen im politischen System, Sicherheitsinteressen und -probleme tragen jedoch beide Seiten (Besonderheit […]

Schreibe einen Kommentar zu Sozialtheoristen » Zur Transformation von Werten in das Schema politischer Interessen und Probleme Antworten abbrechen

Pflichtfelder sind mit * markiert.