Weniger (Information) ist vielleicht mehr (Stabilität)

Wie kommt es eigentlich, dass der allgemeine, gebildete Weltbürger der westlichen Hemisphäre so angetan ist, von den modernen Informationskanälen und seinen frei florierenden Inhalten?

Die ganze Internetbevölkerung ergötzt sich an Twitterstreams, RSS-Feeds und Youtube-Kanälen, dass eine Beschreibung wie „sexuell stimuliert“ am ehesten passt.

Ein besonderer Star der Szene, die jegliche Einschränkung der Internetmöglichkeiten mit dem Kommentar „… hat mal wieder nichts verstanden“ straft und informationelle Stauseebildungen für die einzig sinnvolle Zielrichtung der Geschichte hält, ist Thomas Knüwer, der beruflich für das Handelsblatt schreibt und ansonsten gerne seine Meinung im Internet kundtut.

Heute war mit Bezug auf die Tragödie in Bombay bei ihm (verzerrend zusammengefasst) Folgendes zu lesen:

„Während seit rund einer Stunde die ersten Meldungen über mehrere Schießereien und Explosionen gen USA gedrungen waren und dort von einigen Twitteranern diskutiert wurden, war auf deutschen mobilen Web-Seiten allein bei FAZ.net eine Meldung zu finden. (…) Der heutige Tat wird ein Durchbruch werden auf dem Weg Twitters zum Massenmedium.  (…) Der Twitter-Feed von Vinu sorgte bei mir für eisige Schauer. (…) Er ging hinaus, machte Fotos, veröffentlichte sie auf Flickr. (…) Dann ist da Dina. Sie ist zur Dreh- und Angelscheibe geworden, ohne dass jemand sie dazu aufgerufen hätte. Sie initiierte ein Blog mit Notfallnummern und Hilfe, twitterte Aufrufe zur Blutspende, und stellte Kontakt zwischen internationalen Medien und Twitterern in der Stadt her. (…) Er startete den Twitter-Feed Mumbaiupdates. Und er vermeldete, dass die Behörden bei Twitter ersucht haben, die Suche nach dem Wort Mumbai zu blockieren – die Berichte von den Orten des Geschehens könnten Militäraktionen schaden. (…) Das Instrument Twitter wurde zur schnellsten Nachrichtendrehscheibe für Meldungen aus Bombay.

„Und auch wenn ich die Behörden in Bombay in dem Fall verstehe: Ich finde das auch gut so.“, sagte Jarvis. (Knüwer und Jarvis telefonierten Anmk. S.S.)

Mal im Ernst, welche Funktion hat die Zunahme der Geschwindigkeit von Informationsflüssen, warum ist sie gut und begrüßenswert und weshalb hat es Vorteile, möglichst diese Informationshäppchen aufzusammeln, die von einer Aura der Unmittelbarkeit, Orientierungslosigkeit oder Emotionalität desjenigen angereichert werden, der erlebte.

Ich verstehe das nicht.

Auf CNN habe ich in den letzten 2h mindestens fünfmal eine Szene in Form eines Teasers gesehen, in der sich eine Korrespondentin in Bombay, auf der Straße in die Kamera sprechend, fürchterlich erschreckt, weil hinter ihr plötzlich Schüsse zu hören sind.

Was soll diese unmittelbare Weise der Berichterstattung..? Glaubt tatsächlich jemand, unsere komplizierte, überkomplexe und riesige Welt verstehen wir mit unserem einfachen, unterkomplexen und kleinen Hirn „besser“, wenn wir möglichst unmittelbar erleben, am besten in der unsortierten und chaotischen Weise, wie das Erleben vor Ort geschieht?

Unsere Gesellschaft, so unverhohlen sei mir eine Fundamentaldiagnose erlaubt, braucht nicht mehr Unsicherheit, die durch diese ganzen Informationen erzeugt wird, sondern wieder ein bisschen mehr stabilisierende Ordnung. In Mexiko erschießen Mafiosi den Innenminister, in Thailand sperren Revoluzzer die Flughäfen, in Indien schießt eine Jugendgruppe, die keiner kennt, wild um sich. Dazu Finanzkrise, Hungerkatastrophe und der schlechteste amerikanische Präsident aller Zeiten immer noch im Amt.

Das ist alles nicht gut (in der Welt) und unerträglich (in unseren Gehirnen) – das führt alles nur ins Chaos. Das Internet und die freien Informationskanäle, das führt alles dazu, dass der eine nicht mehr weiß, was der andere weiß, und der eine Dinge kann, die der andere sich nicht mal vorstellen kann und überhaupt: Es ist alles viel zu kompliziert. Wir kommen nicht mehr klar – die Gesellschaft verliert ihren Resonanzboden.

Das könnte vielleicht mal so problematisch werden, wie wir es gerade auf anderem Gebiet erleben. Man glaubte Jahrzehnte, dass sich die Wirtschaft frei von Zwängen, allein durch Glaube an das letztlich Gute positiv für alle entwickeln kann. Nun, nach nur drei Monaten Extremfinanzkrise, sind selbst die striktesten Vertreter dieses Glaubens abgeklärte Realisten geworden. Ich denke, mit den Massenmedien droht ein ähnliches Schicksal. Diese informationelle Wolke, die sich gerade über die Gesellschaft legt, das kann einfach nicht in dem Maße „schön und gut“ sein, wie es überall implizit erklärt wird. Ich erwarte in nicht allzuferner Zukunft ein erschrockenes Erwachen und bleibe verwundert über die Reflexionslosigkeit der rücksichtslosen Informations(ver)treiber.

15 Kommentare

  1. […] im Angesicht dieses Grauens den Web 2.0-Jubelperser gibt, wirkt nicht glaubwürdig. Im Gegenteil. Weniger ist manchmal mehr. Man kann die Begeisterung des Thomas Knüwer förmlich spüren, wenn er von der nächsten […]

  2. Enno Aljets sagt:

    Deine Kritik an der unmittelbaren Berichterstattung unterstütze ich voll und ganz. Allerdings bin ich skeptisch, ob auch hier eine Blase platzen wird.
    Meine (rein subjektiven) Beobachtung der Massenmedien (insbesondere TV und Internet) lässt sich am besten in der Aussage zuspitzen, dass genau der „Wohnzimmerblick“ massenmedialer Inhalte zur primären Perspektive wird. Das gilt schon lange für die Unterhaltungsindustrie und wird zumehmend auch zum Standard der Nachrichten. Warum auch nicht? Die Massenmedien müssen dann nicht mehr für Meinung sorgen (die sie selbst angreifbar macht) sondern nur noch für (nahezu) unmittelbares Erleben beim Publikum, sodass sie selbst sich eine Meinung bilden. Aber Vorsicht! Das ist nicht etwas demokratischer als die Präsentation vorgefertigter Meinung im traditionellen Stil. Vielmehr hat sich vor allem in der Nachrichtenmache eine geschickte Inszenierung der Berichterstattung durch direktes Erleben eingespielt, die noch schwerer zu kritisieren ist, als vorher der Fall war. Denn die spezifische Inszenierung läuft auf Einheitsmeinugsbildung hinaus, weil sie kaum noch einen anderen Schluss zulässt. Da die Meinungsbildung aber erst aktiv beim Publikum entsteht, ist die Zurechnung auf die Produzenten verdeckt. Ein typisches Merkmal indirekter Kommunikation. Kritik wird damit schwieriger. Beispiele sind u. a. 11. September, Irak-Krieg, Nato-Einsatz im Kosovo, Georgien-Krieg, usw. usf.
    Das ist so geschickt und fesselnd, dass ich nicht glaube, dass sich die Gesellschaft daran irgendwann satt gesehen hat und wieder eine traditionelle Meinungsbildung fordert.

  3. Stefan Schulz sagt:

    Naja, sattsehen kann sich natürlich jeder… Allerdings holt sich jeder einen eigenen Happen aus dem Angebot und letzlich steht er mit dem Erleben ganz allein. Früher hat man einfach Tagesschau gesehen und konnte sich am nächsten Morgen darüber unterhalten. Heute weiss jeder was anderes und dann hat auch noch jeder eine ganz andere Meinung, die er auf Informationen stützt, über die nur er verfügt, weil er irgendwo irgendwas gesehen hat.

    So geht das nicht… Das Problem der Finanzkrise ist nicht die „Blase“ sondern die Orientierungslosigkeit derjenigen, die auch ohne Orientierung irgendwie handeln müssen. Irgendwann führt die aktuelle Zügellosigkeit der Informationsverbreitung zu ähnlichen Orientierungsverlusten. Es gibt Leute, die haben sich stundenlang die Twittersuche zu Bombay angesehen… 10 Tweets pro Sekunde(!!!) – dafür ist unser Gehirn nicht gemacht – statt „gut informiert“ sind wir dadurch nur noch abgemeldet.

    Lösung: natürlich keine… ;-)

  4. Enno Aljets sagt:

    Da hast du natürlich recht, dass eine vergleichsweise einheitliche Realitätskonstruktion nicht mehr gegeben ist, wenn der Trend der Zersplitterung massenmedialer Berichterstattung zunimmt und damit eine singuläre Realitätskonstruktion stattfindet, die nicht mehr gesellschaftlich Anschluss findet. Allerdings kann man gegen Angst und Emotion wenig sagen, weshalb sie geradezu universell anschlussfähig sind. Keine Themen, dafür Emotionen, dadurch wieder Anschluss, könnte man verkürzt sagen. Ob die gesellschaftliche Realitätskonstruktion der Massenmedien eine zunehmende Emotionalisierung aushält, wäre dann die Frage.

  5. Stefan Schulz sagt:

    Aber das würde ja bedeuten, dass wir uns zukünftig nur noch in der Art unterhalten:

    A: Ich hab Angst.
    AE: Ja, ich auch.
    A: Ich hab da was gesehen…
    AE: Ja, ich auch – fürchterlich.
    A: Ja.
    usw.

    Keine Themen aber trotzdem Anschluß. Ob sich so eine Gesellschaft stabilisieren lässt… ;-)

    (Wobei, so erschreckend es ist, das ist die Form in der sich manchmal alte Menschen unterhalten – die brauchen tatsächlich keine Themen mehr, die sagen einfach nur noch „Schlimm, ja schlimm“ und erwiedern dann „Ja, wirklich schlimm“ ;-)

  6. Enno Aljets sagt:

    Ja, ungefähr stelle ich mir das vor (wobei das natürlich arg überspitzt ist). Es wird schon noch um Themen geben, aber halt sekundär. Zuerst steht die mit dem Thema verbundene Angst, die den Anschluss sicher stellt. Frag mal unseren Mediensozoliogen Prof. Sutter, der betont immer wieder, dass Angstkommunikation ein wichtiges Instrument ist.
    Und dann stellt sich tatsächlich die Frage, wieviel Angst und Emotion von der Gesellschaft ausgehalten werden kann oder anders gefragt, ob die Anschlussfähigkeit über Angst und Emotion ausreicht, um Gesellschaft zu erzeugen.

  7. Stefan Schulz sagt:

    Da würde ich aber unterscheiden.

    a) Angstkommunikation im Sinne von: Der amerikanische Präsident erzählt 4 Jahre was von Massenvernichtungswaffen, bösen Ländern, terroristische Organisationen, usw. Das funktioniert, das haben wir ja gesehen.

    b) Angstkommunikation im Sinne von: Die Medien sind voll von unkommentierten und chaotisch chronologisierten Liveberichten, an die man sich wahllos andockt oder die man eben ignoriert.

    Der erste Fall hat ohne Zweifel ein hohes stabilisierendes Potential. Der zweite Fall jedoch, zerpflückt die gesell. Kommunikation in kleine unkompatible Bröckchen…

  8. Enno Aljets sagt:

    Stimmt soweit. Aber auch Punkt B lässt sich strukturieren, planen und inszenieren. Vielleicht nicht im Sinne einer „Schwarmintelligenz“, aber durch Medienorganisationen allemal. Es geht dabei also nicht nur um politisch motivierte Strategie, sondern auch um massenmediale Inszenierungen, die eben den „Wohnzimmerblick“ als Perspektive einnehmen und zunehmend auf Aktualität, Direktheit, Unmittelbarkeit sezten, denn auf selegierte Information. Dennoch lässt sich hier noch viel steuern, denke ich. Von daher wird auch bei Punkt B noch genügend Einheit hergestellt.

  9. Alexander Engemann sagt:

    Ich weiss ja nicht, ob die Quantität und die Unmittelbarkeit der Nachrichten das Problem der Verunsicherung sind, welches du ansprichst. Gegen die einprasselnden Nachichten kann man mehr oder weniger Selektionsmechanismen ausbilden. Das Problem der Verunsicherung ist doch eher die überspitzte, medienwirksame Art – also die Qualität dieser Nachrichten – und die Beschränkung auf Katastrophen, Krieg, Hunger, Konflikt. Schöne und beruhigende Sachen haben kaum einen Nachrichtenwert mehr (bzw. hatten ihn vermutlich auch noch nie so richtig) und der kleine Menge geht einfach unter.

    Naja die Funktion der Beruhigung übernimmt natürlich die Unterhaltungsindustrie, insofern gibt es das natürlich, aber wir sind hier ja bei den informativen Nachrichten ;-)

  10. Stefan Schulz sagt:

    „Gegen die einprasselnden Nachichten kann man mehr oder weniger Selektionsmechanismen ausbilden.“

    Nur welche??? Zeitungsredaktionen, Kamerateams, Korrespondenten? Das is alles nich mehr oder klingt gerade ab…

  11. Wolf sagt:

    Dem Ideal all jener News 2.0-Evangelisten zufolge würden – zumindest nach meinem Verständnis – an die Stelle der Redaktionen und Korrespondenten die individuellen Selektionsmechanismen treten; z.B. welchen Twitterern folge ich, welche Feeds abonniere ich, wonach google ich?

    An die Stelle der gesellschaftlich determinierten Relevanz (das Weltgeschehen hat in 15 Minuten Tagesschau zu passen) träten demnach zahllose individuellen Relevanzen, die sich komplett voneinander unterscheiden können. Daran schließen natürlich die Probleme an, die Ihr oben schon diskutiert habt: Man steht mit seinem Erleben zunehmend alleine da. Du sprichst vom Resonanzboden, den die Gesellschaft verliert. Das interessiert mich, weil ich den Begriff entweder nicht kenne, oder vergessen habe. Woher kommt der Begriff? Warum braucht Gesellschaft Resonanzboden?

  12. […] sein, nur stellt sich die Frage, zu was News und Nachrichten damit geworden sind. Stefan Schulz fragt bei den Sozialtheoristen: “…weshalb hat es Vorteile, möglichst diese […]

  13. Alexander Engemann sagt:

    Nunja, meine Selektionsmechanismen sind z.B. kein Fernsehen und hin und wieder mal die onlineseiten der Zeitungen. Ich will nur sagen, dass man durchaus selbst entscheiden kann, ob man diese Informationsflut erlebt, oder eben nicht. Und ich glaube, dass das viele, die sich davon überfordert sehen, das früher oders später tuen. Die Flatscreens in der Öffentlichkeit, denen man kaum entkommen kann, nehmen zwar exponentiell zu, das erlebe ich durchaus als belästigung, aber das hält sich ja (noch) in Grenzen.

  14. Stefan Schulz sagt:

    „Nunja, meine Selektionsmechanismen sind“ – genau, DEINE – das ist ja der Anlass für meinen Artikel. Jeder von uns hat SEINE Kanäle die er benutzt und andere die er ignoriert. Jeder hat sein eigenes „Welterlebensprofil“.

    @Wolf – ja, Resonanz, im physikalischen „Gleichschwinnungssinne“ ist wohl auch von Luhmann in die Gesellschaftstheorie aufgenommen wurden. Ich weiss aber nicht wo. Mein Gedanke dahinter ist, dass man dann von Resoanz sprechen kann, wenn man sich nicht über die Paradigmen oder Axiome der eigenen Beobachtung verständigen muss, sondern diese implizit als „gleich“ vorrausgesetzt werden (können).

    Wenn man mit nem Freund beim Fussball ist, kann man gemeinsam über den Schiri schimpfen, ohne dass man sich über die Anlässe nochmal verständigen muss. Man kommuniziert auf gleicher Wellenlänge – Resonanz ist gegeben.

    Heute geht aber jeder zu seinem eigenen Fussballspiel… Und daher kann man seine eigenen Schiribeobachtungen beim anderen, mit dem man sich ja an sich nur gemeinsam aufregen will, nicht vorraussetzen, sondern muss erstmal erklären, was man eigentlich beobachtet hat… Das was eigentlich Spass macht, das gemeinsame Rumnölen, muss also erstmal warten – weil noch kein Resonanzboden vorhanden ist und erst aufwendig kommunikativ erzeugt werden muss…

    Ich sehe da jedenfalls ein riesen Problem.

  15. […] Sollten wir Studenten auch StudiVZ, immerhin sind wir dort mit lauter fachgleichen Kommillitonen “verdrahtet”, angeben, um unsere wissenschaftliches Qualitätspotential zu verdeutlichen? (Alles dummer Müll.) […]

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.