Der vorliegende Artikel geht auf Stefans Angebot zurück, hier ein eigenes (zwischenzeitliches) Resümee der Diskussion um die künftige Rolle der Massenmedien veröffentlichen zu können. Die Diskussion selbst schließt an den ursprünglichen Artikel über die Selektionskriterien der Wikipedia an. Alle wesentlichen Gedanken dazu finden sich bereits in den entsprechenden Kommentaren – hier soll noch einmal explizit auf einige für mich besonders bedeutende Aspekte der Diskussion hingewiesen werden. Die Überlegungen bleiben, was ihrem Gegenstand geschuldet ist, notwendig hypothetisch – mehr als ohnehin findet der Flug über den Wolken statt.
Die Organisation.
Wie ist die Wikipedia, an der einige der folgenden Überlegungen exemplarisch durchgespielt werden sollen, formal organisiert? In Unterscheidung zu anderen sozialen Systemen stehen bei der Beobachtung von Organisationen ihre Anerkennungs- bzw. Mitgliedschaftsregeln im Zentrum der Aufmerksamkeit: Für die Kommunikationen im sogenannten „Web2.0“ (im Allgemeinen) und für jene innerhalb der Wikipedia (im Besonderen) stellt sich daher zunächst die Frage der Mitgliedschaft. Eine Rollenspezifikation als „Autor“ erlaubt eine niedrigschwellige Partizipation und damit die Mitgliedschaft in der Organisation qua Eintritt. Nur schwer sind einfachere Bedingungen vorstellbar, um die Grenze in Richtung Mitgliedschaft zu kreuzen; sie markiert die Innenseite der Form und ist in genau dieser Niedrigschwelligkeit von der Organisation festgelegt worden – sie ist ihr kleinster uns größter Nenner zugleich.
Damit ist noch keine Aussage über die Prämissen getroffen, die den Bereich der potentiellen Kommunikation (in Form von Entscheidungen) in qualitativer Hinsicht strukturieren. Neben der Rollenspezifikation dient ein Rückgriff auf Programme, entlang derer die Entscheidungen formatiert werden, der Einschränkung von Kommunikationsoptionen – man schreibt schließlich gemeinsam an der „freien Enzyklopädie“ (oder am Wissen der Welt in 6/26/600 Bänden, aber nicht an einem Reiseführer für die Bielefelder Unterwelt). Was bedeutet die rezente Kontroverse der Wikipedia, die entlang einer Differenz von Relevanz/Irrelvanz prozessiert wird und paradigmatisch im Streit zwischen „Inklusionisten“ und „Exklusionisten“ eine frühe Form fand? Der Einfachheit halber sei Relevanz hier nominalistisch auf Informationswerte reduziert, mit Gregory Bateson also auf Unterschiede, die einen Unterschied machen.¹ Um die Einheit der Differenz zu beobachten, ist eine Beobachtung zweiter Ordnung nötig, gegebenenfalls sogar eine eigene Reflexionstheorie.
Funktionssystem & Science Fiction.
Kein Funktionssystem kann auf (eine) Organisation reduziert werden. Es stellt sich also die noch grundsätzlichere Frage: Zu welchem ausdifferenzierten System gehören die Kommunikationen der Wikipedia? Mutmaßlich ist die Wikipedia dem System der Massenmedien zuzuordnen. Der grundsätzliche Code Information/Nicht-Information strukturiert die Elemente der Kommunikation und seligiert so die eigenen Operationen² – neben idiosynkratischen Relevanzzumutungen (die obendrein in der Regel zu konfligieren scheinen) geschieht das bislang ausschließlich in quantitativer Hinsicht.
Nun zu meiner Vermutung: Wir haben es nicht mit der Ausdifferenzierung eines neuen Funktionssystems zu tun.³ Und auch den zentralen Code können wir bis auf weiteres unangetastet lassen. Aber mit dem Aufkommen des Computers und des Internets als neuen Hauptverbreitungsmedien ist die Gesellschaft mit Überschusssinn konfrontiert, auf den sie in der einen oder anderen Weise zu reagieren lernen wird. Erste Anzeichen beobachten wir auf Ebene der Organisation, deren klassisch-hierarchischer Aufbau schon seit geraumer Zeit nicht mehr angemessen erscheint; dies gilt dann insbesondere auch für die Administration der (deutschsprachigen) Wikipedia, die unter dem Deckmantel der Selbstverwaltung an hierarchisierter Autorität festhält und damit ein Zentrum und die Möglichkeit von Steuerung suggeriert – was aber geschieht, wenn alle Mitglieder zugleich handeln?
Möglicherweise, aber das bleibt Spekulation, sind wir Zeuge der internen Neustrukturierung der Organisation. Für die Massenmedien beschreibt Stefan diesen Vorgang als eine Nivellierung von Zentrum und Peripherie (bzw. Autor/Leser).⁴ Radikaler formuliert: Entscheidende Bedeutung erlangt eine zunehmende Zurechnung der Kommunikation auf die Kommunikation.⁵ Diese Entscheidung kann Bedeutung auf Programmebene erlangen. Wir sollten den Gedanken im Hinterkopf behalten, dass die Wikipedia hier nur exemplarisch gewählt worden ist und es auch darüber hinaus an Sinnzumutungen nicht mangelt: Alles ist potentiell relevant und gleichzeitig mehr denn je verfügbar. Die Synchronisation von Sinn als Hintergrundrealität ist und bleibt Funktion der Massenmedien (und die Möglichkeit ihrer Transformation in Zahlungen Motivation für die anhaltende Forschung an neuen Suchmaschinen). Die Frage nach Qualität und Etablierung der Normalisierung von Information ohne Zurechnung auf Autoren, also Personen – und ihre Reputation, bleibt offen. Ebenso Fragen nach der Qualität von Nicht-Wissen. Am Horizont: Das Ende der Buchdruckgesellschaft.
Anmerkungen.
¹ Damit ist zunächst jeder Eintrag relevant, sei es beispielsweise für den Verfasser oder auch den Betreiber des Servers, der wieder ein paar Bytes mehr zu verwalten hat. Streng genommen übrigens auch Artikel zu willkürlichen Zeichenfolgen.
² Grundsätzlich wäre auch eine Orientierung anhand der Unterscheidung wahr/nicht-wahr denkbar. Die genaue Positionierung der Wikipedia zwischen Wissenschaft und Massenmedien mit Blick auf ihre Funktion der Erzeugung von Realität wäre eine eigene Behandlung wert; intuitiv ist ein Medium analog zur öffentlichen Meinung als Kopplung von Massenmedien und Politik denkbar: „Populärwissenschaft“ als Kopplung von Wissenschaft und Massenmedien (insbesondere, nachdem die Rolle des Intellektuellen mehr und mehr als antiquiert zu gelten hat)? Wir sehen hier der Einfachheit halber von der Möglichkeit wissenschaftlicher Forschung im Rahmen der Wikipedia ab und beschränken ihre Funktion auf die Kommunikation von Information.
³ Was allerdings generell in Anbetracht ungewisser Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.
⁴ Enno merkt kritisch an, ein qualitativer Unterschied bestehe auch weiterhin. Dem ist nicht zu widersprechen, mit Blick auf die Funktion des Mikrobloggingdienstes Twitter während der Wirren nach der iranischen Präsidentschaftswahl und der vergleichsweise sorglosen Adaption von Informationen durch europäische „Qualitätsmedien“ aber zumindest ein Fragezeichen hinzuzufügen.
⁵ So kann die Autorenschaft eines Artikels bereits heute beispielsweise auf IP-Adressen statt auf Personen zugerechnet werden. Eine Abstraktionsleistung, die die Konstruktion organisationsinterner Lebensläufe zur Qualifikation für Leitungsposten (z.B. Administration) erschwert und somit Idiosynkrasien vorbeugen kann; auch die von Enno beschriebene Automatisierung von Berichterstattung scheint mir auf diesen Punkt, die Abstraktion vom Autoren, hinauszulaufen. Und damit in die Nähe des Diktums Niklas Luhmanns zu rücken, dass in der Wissenschaft der Gesellschaft, Seite 11, Fußnote 1 zu finden ist: Mittelalterliche Textgepflogenheiten, die das Buch selbst wie einen Autor sprechen lassen, haben den Buchdruck nicht überlebt [Luhmann scheint hier vor allem die Kopisten in den klösterlichen Scriptorien im Sinn zu haben, S.P.]. Es wäre nicht ganz abwegig, sie wiederaufzugreifen, denn schließlich stammt, jedenfalls wo es »wissenschaftlich« zugeht, nur sehr weniges, was in einem Buch zu lesen ist, von dem Autor selbst.”
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