In seiner Abschiedsrede als Präsident der Humboldt Universität zu Berlin überrascht Christoph Markschies mit der Überlegung, dass in Deutschland trotz Abschwächung ideologischer Borniertheiten immer noch keine wirkliche Differenzierung von Hochschultypen möglich sei („Universitäten können nicht allen alles bieten“, FAZ vom 28.10.2010). Überraschend ist ebenfalls seine Schlussfolgerung. Die deutsche Hochschullandschaft sei „also“ nicht konkurrenzfähig, weder im Verhältnis mit angloamerikanischen Spitzenuniversitäten („entschlossene Elitenförderung“) noch in Bezug auf das Ziel, „die breite Masse“ adäquat auszubilden.
Diese Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist bemerkenswert, steht und fällt das Argument doch mit der Frage nach der faktischen Differenzierung in und zwischen den Hochschulen. Mein Eindruck ist, dass Markschies sich womöglich eine andere Ursache suchen muss, um seine These mangelnder Konkurrenzfähigkeit zu behaupten. Denn eine solche Binnen- und Typendifferenzierung mag vielleicht nicht möglich sein. Existent ist sie schon. Man muss sich dafür nur vor Augen führen, welche faktischen Differenzen den verschiedenen Mitgliedern von deutschen Hochschulen in ihrer täglichen Auseinandersetzung mit diesen eigentümlichen Organisationen begegnen. (Früher hätte man statt „verschiedene Mitglieder“ wahrscheinlich Statusgruppen gesagt. Das ist insofern obsolet, weil sich herausgestellt hat, dass diese gar keine einigermaßen geschlossenen Gruppen bilden.)
Wohlgemerkt, es geht um faktische, nicht um ideelle Differenzen! Ideell sind ja vor allem solche Unterschiede, deren Geist zwar immer wieder beschworen wird, die aber auf das Verhalten in der Organisation kaum bis gar keinen Einfluss haben. Die Differenz von Forschung und Lehre ist da sicherlich die prominenteste. Ihre Einheit gilt es, so zumindest die Idee, fortlaufend zu erreichen. Aber nahezu keiner orientiert sich daran.
Faktische Differenzen sind demgegenüber diejenigen von Universitäten und (Fach-)Hochschulen entlang der Frage des Promotionsrechts; von Volluniversitäten und ihren spezialisierten technischen, medizinischen oder künstlerischen Pendants; von Natur- und Geisteswissenschaften und den dazwischen oszillierenden Sozialwissenschaften; von öffentlich und privat finanzierten Einrichtungen; von reiner Wissenschaft und instrumenteller Anwendungsorientierung; von traditioneller Alma mater und Reformuniversität; von Großstadtflair und Provinzmief; von Leuchttürmen und Massenuniversitäten; von exzellenten und unauffälligen Hochschulen mit „Nischencharakter“; von unterfinanzierten Fakultäten und Organisationseinheiten mit ausreichendem Mittelzufluss; von akkreditierten „Systemen“ oder Studiengängen und solchen, die darauf (noch oder mal wieder) warten – um nur einige zu nennen.
Der Chicagoer Soziologie Andrew Abbott verfolgt in Bezug auf eine oftmals undurchsichtige Gemengelage von Differenzen einen Gedanken, der auch für die Betrachtung der deutschen Hochschullandschaft und einer von Markschies angemahnten Typendifferenzierung interessant ist. Soziale Einheiten wie zum Beispiel wissenschaftliche Disziplinen oder Professionen entstehen dadurch, dass in mehr oder weniger übersichtlichen Konstellationen interessierter Personen Differenzen miteinander verknüpft und geordnet werden – und zwar über Jahrzehnte. Die Differenzen bestehen bereits vorab, nicht aber die sozialen Einheiten, denen ihr Zusammenspiel schließlich Gestalt (und in der Regel einen Eigennamen) verleiht. „Boundaries come first, then entities.”
Die zentrale Überlegung dabei ist, dass sich letztlich beständige Gruppen konstituieren, indem sie nach und nach jeweils eine Seite einer Vielzahl von Differenzen besetzen. Durch die damit verbundene Erzeugung zahlreicher Grenzen gegen Dritte gewinnen sie Stabilität und ein besonderes „Image“. Abbott spielt einen solchen historischen Prozess am Beispiel der Sozialen Arbeit („gegen“ die Psychatrie und die Medizin) in den USA durch. Anfang des 20. Jahrhunderts koppeln sich hier aus seiner Sicht die drei Seiten Weiblichkeit, Betreuung nur bestimmter und vor allem staatlich gekennzeichneter Klienten und Arbeitsplätze außerhalb kirchlicher Zusammenhänge.
Organisieren sich die deutschen Hochschulen als soziale Einheiten in ähnlicher Weise? Sicherlich in Ansätzen, könnte die Antwort lauten, wenn man sich dafür interessiert, welche Präferenzen sich je nach Situation und Kontext für jeweils eine Seite der zahlreichen genannten Differenzen finden lassen. In vielen Fachhochschulen verbinden sich Anwendungsorientierung, Reformorientierung und Nischendasein. Einrichtungen, die mittlerweile den Zusatz „Fach“ streichen, machen sich dagegen auf, anwendungsorientierte und massentaugliche Universität zu werden – als ein Realexperiment mit ungewissem Ausgang. Beide setzen sich darüber gegen andere Hochschulen ab, gewinnen folglich ihr Profil, weil es auch andere Typen gibt. Markschies‘ These mangelnder Typendifferenzierung in der aktuellen Hochschullandschaft ist somit mindestens überdenkenswert.
Fragt man jedoch danach, in welchen Konstellationen interessierter Stellen die Differenzen neu bzw. anders geordnet oder ohne viel Bewegung befestigt werden, liegt der springende Punkt der Abschiedsrede jenseits einer fragwürdigen Kausalitätsvorstellung von verursachender Differenzierung und erwirkter Konkurrenzfähigkeit. Kritisch erscheint vielmehr, ob die Hochschulen selbst in der organisatorischen Lage sind, Differenzen zu erkennen, Präferenzen zu entwickeln und sie für sich in Differenz zu anderen Einrichtungen zu ordnen – und dabei auch Gegensätze wie die Förderung vermeintlicher Eliten und fundierter Ausbildung aufzulösen. (Denn ob die Idee, sich als Elitehochschule zu positionieren, als organisatorische Ordnungsvorstellung mit Attraktionspotential für eine nennenswerte Anzahl von Studierenden sowie für unterstützende Dritte taugt, kann als offene Frage gelten.)
Es wird häufig auf politisch-rechtliche Autonomiebeschränkungen verwiesen, welche die organisatorischen Freiheitsgrade der Hochschulen verringern. Das ist sicherlich richtig. Über viele Differenzen können die Hochschulen kaum selbst befinden. Man denke an die Akkreditierungsanforderungen. Stellen wir uns aber vor, dass diese Beschränkungen von heute auf morgen wegfallen würden. Welche nennenswerten „Selbststeuerungskapazitäten“ (Karl Gabriel) gibt es in der deutschen Hochschullandschaft? Diese Frage sollte nicht nur Soziologen beschäftigen.
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Schaut man sich die (rechtlichen) Kompetenzen an, die den verschiedenen Hochschulen nach den mittlerweile ganz unterschiedlichen Ländergesetzen zufallen (bspw. Otto Hüther), dann fällt auf, dass alleine durch rechtliche Rahmenbedingungen Grenzen gesetzt werden. Würde man der These Andrew Abott folgen, würde es bedeuten, dass man relativ zeitnah auch faktische Differenzen beobachten könnte. Mal davon abgesehen, dass mir spontan kein methodisches Design einfallen würde, mit der man diese Veränderungen auch erheben könnte, wäre allein die Herangehensweise interessant, weil auch eine Beobachtung von Nicht-Veränderung Schlüsse zuließe.
„Steuerungskapazitäten“ gibt es zuhauf. Und zwar schon deshalb, weil es Beschränkungen gibt. Nur weil sich das Unterfangen der „Steuerung“ komplexer und schwieriger herausstellt als man angenommen hatte oder für wünschenswert hält, heißt das ja nicht, dass nicht bereits gesteuert wird.
Enno, ich stimme Dir vollkommen zu, dass ein passendes Forschungsdesign eine interessante Frage ist. Dazu zählt dann sicherlich auch die „Messung“ von Steuerungskapazitäten. Legt man die definitorische Überlegung zugrunde, dass „die Hochschulen selbst in der organisatorischen Lage sind, Differenzen zu erkennen, Präferenzen zu entwickeln und sie für sich in Differenz zu anderen Einrichtungen zu ordnen“ , dann bin ich mir nicht sicher, ob es sie „zuhauf“ gibt. Allerdings ist diese definitorische Ausgangsentscheidung möglicherweise selbst fragwürdig…
Doch dazu sind sie in der Lage, würde ich sagen. Vielfach sogar. Sie können doch alle Strukturen mittlerweile ändern, wenn sie wollen. Vielleicht sind Universitäten dabei nicht so agil und schnell wie andere Organisationen. Aber sie haben – angesichts der heterogenen Ländergesetzgebung – sehr unterschiedliche, aber viele Möglichkeiten. Differenzen können sie erkennen. Die etablierten, teils verpflichtenden Evaluationen und Akkreditierungen, aber auch die Rankings und die Zuteilungen von drittmittelbasierten Forschungsressourcen, sowie die zahlreichen Zitationsindexe machen eine Vergleichbarkeit möglich. Wenn man wollte, könnte man diese Differenzen sogar in konkrete Zahlen fassen. Gleiches gilt für die Ausbildung von Präferenzen. Schau dir nur einmal die elf als exzellent ausgezeichneten Hochschulen an und du wirst deutliche Differenzen der Ausgestaltung beobachten können. Auf Ebene der Clusterbildung des gleichen Wettbewerbs wird dies noch viel deutlicher. In der Folge entscheiden Hochschulen dann auch bei der Besetzung von Stellen und dem Ausbau von Forschungsprogrammen. Da wird dann teilweise auch nach Impact-Faktoren „eingekauft“. Also auch nach der vorgeschlagenen Definition kann man bei Universitäten Steuerungskapazitäten finden. Ob und wie sie genutzt werden, und woran die unterschiedliche Nutzung der Möglichkeiten liegt, sind freilich ganz andere Fragen, die es noch zu beantworten gilt.
Deine Überlegungen sind einleuchtend. Gründe zum Weiterdenken sehe ich allerdings in zwei Punkten:
(1) Du schreibst von Folgeprozessen („In der Folge entscheiden Hochschulen…) und legst dabei eine eigentümliche (systemrationale) Kausalität nahe. Um diese Schlussfolgerung zu ziehen, müsste man sich diese Entscheidungsprozesse mal genauer vornehmen, denke ich.
(2) In Deiner Skizzierung erscheint die Hochschule sehr als unitärer Akteur, so dass Binnendifferenzierung möglicherweise in ihrer Relevanz unterschätzt werden. Die „Lokalisierung“ von Steuerungskapaizäten scheint mir daher sehr notwendig; vor allem um zu diskutieren, ob die Präferenzbildung an einer Stelle (Rektorat?) das Verhalten an anderen Stellen überhaupt tangiert.
ad 1: Dass Stellen häufig erst in der Folge neuer Mitteleinwerbungen besetzt oder gar erst geschaffen werden, ist natürlich keine Überraschung. Ich habe mich auf diesen Fall bezogen, weil er halt weitaus häufiger anzutreffen sein wird. Tatsächlich gibt es auch Fälle, in denen Stellen unter strategischen Gesichtspunkten umgewidmet werden. Die Etablierung von Bildungsforschungseinrichtungen, die direkt dem Rektorat unterstellt sind, bei gleichzeitigem Abbau der traditionellen Erziehungswissenschaften ist hierfür ein sehr anschaulicher Fall. Und natürlich sprechen wir von einer eigentümlichen Systemrationalität. Ich wüsste nicht, wovon sonst man ausgehen könnte, wenn man stark handlungs- und akteursbezogene Theorieangebote nicht ins Zentrum stellen wollte.
ad 2: Mit diesen Überlegungen wird seit ungefähr zwei Jahrzehnten immer wieder versucht, zu bestreiten, dass man die Universität als Organisation analysieren könnte. Damit wird dann auch begründet, warum man sich mit organisationstheoretischen Angeboten nicht auseinandersetzen muss. Stattdessen werden dann Handlungstheorien und pure RC-Modelle herangezogen. Diese Perspektive überzeugt mich nicht, weil es eben genug organisationstheoretische Angebote gibt, mit denen man nicht nur die Binnendifferenzierung, sondern auch das Zusammenspiel der differenzierten Einheiten beobachten und beschreiben kann. Diese darf man aber m.E. nicht an erster Stelle setzen, weil sonst die Perspektive auf den Gesamtzusammenhang der Organisation verloren geht. Dieser wird in handlungstheoretischen Analysen in der Regel unterschätzt, weshalb einige Dinge in seltsamen Erklärungszusammenhängen landen oder gar nicht beachtet werden.