Dieser Text soll darstellen, dass die WikiLeaks-Idee der Transparenz zwar eine gute Sache ist, aber nichts verhindert, was politisch wirklich gewollt ist oder einfach passiert.
In einer der letzten Quarks & Co Sendungen ging es um die Psyche und ihre Mechanismen, mit einer plötzlichen aber andauernden Extremsituation (Entführungen, Bergwerkseinschlüsse, …) zurechtzukommen. Man kann das interessante Interview mit einem Experten (Georg Pieper) nochmal vollständig sehen. Kernpunkt: Die Psyche (nicht nur ihr „Bewußtseins-Teil“) findet bei Notwendigkeit Wege, Kontroll- und Orientierungsverluste auszugleichen, Erwartungen anzupassen und neue, aktuell unbekannte Quellen für Stabilität zu finden.
Nun sind diese Strategien keine, die dem Gehirn gegeben sind, um Extremsituationen zu meistern. Für das Gehirn handelt es sich beim Anpassen und Ausgleichen um Alltagsarbeit, die nicht weiter auffällt, weil sich normalerweise nicht alles auf einmal ändert, sondern immer irgendetwas ein bisschen. Auf diese Weise wird Irrsinn tradiert, ist Verstrickung (bzw. „Commitment“) möglich, wird Unglaubliches alltäglich. Das Ziel ist stets, Überraschungen zu vermeiden und Gedanken-Schubladen zu benutzen – also aufwändige, Bewusstsein erfordernde Kognitionen zu vermeiden.
Dieser psychische Mechanismus der Desensibilisierung durch Hyposensibilisierung funktioniert auch im Sozialen. Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir, die Welt, heute Morgen 9:15 Uhr einen Kontinent entdeckt hätten, auf dem Millionen von Menschen hungern und sterben. Oder wenn plötzlich weltweit alle Nachrichtenkanäle die Meldung zeigten, dass ein amerikanisches Bombengeschwader in einem Land, von dem bisher kaum einer hörte, 100.000 Menschen aus der Luft getötet hat.
Wir hätten für solche Meldungen weder in unserem Kopf noch in unserer Lebenswelt ein Skript, das uns diese Nachrichten sorglos verarbeiten/ertragen ließe. Der 11. September 2001 ist dafür ein gutes Beispiel. Viele wissen immer noch, dass es ein Dienstag war, wohin sie auf dem Weg waren, mit wem sie sich unterhielten – weil sich der Tag nicht einfach ein- bzw. wegsortieren lässt.
Den Mechanismus der Hyposensibilisierung kann man strategisch nutzen. Es lassen sich Skripte gezielt installieren/etablieren. Sie liegen beispielsweise vor, wenn wir an Banker denken, die um unsere Zukunft besorgt sind oder wenn Nahrungsmittelhersteller zeigen, dass sie sich für unsere Lebensqualität und Gesundheit interessieren. Diese Werbestrategien haben das Ziel, eine Idee so tief im Alltäglichen zu verankern, dass wir sie nicht hinterfragen. Die meiner Ansicht nach erfolgreichste Strategie war, das Auto als Statussymbol bzw. Träger der eigenen Persönlichkeit und den Individualverkehr als Menschenrecht zu etablieren. Als dieser konkrete Fall von gesellschaftlicher „Inception“ begann, war die Eisenbahn der Inbegriff der Modernität, die Wohlstand erschuf und sicherte. (Vielleicht ist das offene „Browser-Internet“ ja die Eisenbahn des 21. Jahrhunderts, die allmählich von zweckspezifischen, geschlossenen, individuell spezifizierten, personalisierten Apps ersetzt wird.)
Die Werbeseite dieser Strategie ist relativ harmlos. Folgenreicher ist die Idee der politischen Propaganda. Die WikiLeaks-Idee der transparenten Regierung ist nämlich nicht so grundlegend, wie sie sich vorgestellt wird. Denn, das Offenlegen von geheimen politischen Strategien ist nicht der Mechanismus, der die Welt verbessert. Beispiel: Es stellt sich die Frage, welche Folgen es gehabt hätte, wenn die Akten zur Wannseekonferenz im Februar 1942 veröffentlich worden wären. Man könnte argumentieren, die Verantwortlichen hätten darauf festgenagelt werden können. Der D-Day hätte vielleicht ein oder zwei Jahre eher stattgefunden. Aber: Wäre die politische Strategie der Nazis auch ohne Wannseekonferenz / in öffentlicher Konferenz durchführbar gewesen? Vielleicht ja. Denn die Idee der Judenvernichtung war bereits in der Welt und wurde umgesetzt. Die Idee war so etabliert, dass sich diejenigen rechtfertigen mussten, die sie nicht mittrugen.
Das erfolgreiche Durchsetzen einer politische Strategie ist keine Frage ihrer Geheimhaltung (was implizieren müsste, dass die Regierung die Bevölkerung andauernd „hinters Licht“ führt – das ist beliebt aber auch sehr fragwürdig), sondern ist eine Frage der geplanten Platzierung von Ideen – auch PR und Agendamanagment (Agendasetting, -surfing und –cutting) genannt.
Der Nationalsozialismus hat gezeigt, dass sich jede Idee gesellschaftlich hinnehmen lässt, wenn sie nur lang genug schwelt und thematisiert wird. Wir nehmen jetzt schon hin, dass hunderttausende Unschuldige gezielt in Kriegen getötet werden und Millionen durch unterlassene Hilfeleistung sterben.
Nach dem 11. September dauerte es exakt 4 Monate um in Kuba das Guantánamo-Lager zu eröffnen. Die „westliche Hemisphäre“ wird seit 10 Jahren grundlegend desensibilisiert, was staatliche Gewalt betrifft. Im TV gewinnt man 3 Millionen Euro innerhalb von 4 Stunden, einzelne Banken zweigen Hunderte Milliarden Euro innerhalb weniger Wochen ab, schwerbewaffnete Polizisten patrouillieren in Menschenmengen, in denen sie tatsächlich niemals schießen würden, usw..
Der „Military-Industrial-Academic-Complex”, der die ein oder andere Verschwörungsfantasie beflügelt, tatsächlich aber eher so etwas wie ein soziales Naturgesetz ist, sieht in der Transparenz-Anforderung eine eher kleine Herausforderung. Man muss nichts geheim halten, was sowieso akzeptabel ist, wenn man nur ein bisschen Geduld mitbringt. Bzw. man darf nichts geheim halten, will man nicht die langwierige Desensibilisierung durch einen Schockmoment der „Spontan-Veröffentlich“ kaputtmachen, die zu Reflektion und weiterführenden Gedanken führt.
Vielleicht kriegt es WikiLeaks noch hin, uns mit Bankgeheimnissen zu überraschen, bevor es gesellschaftlicher Konsens ist, dass Banken reine Boni-Renten-Versorgungseinrichtungen sind.
Helmut Schmidt erzählt manchmal die Anekdote, dass man die Autofreien Sonntage in den 70ern eingeführt hat um den Leuten klarzumachen, dass ein Ölpreis von über 5 Dollar eine Katastrophe darstellt. 35 Jahre später boomt die Autoindustrie, während der Ölpreis um die 80 Dollar pendelt und eine Abkehr von Öl ist nicht in Sicht. Nichts ist undenkbar – egal welche Erzählung gerade in Mode ist.
WikiLeaks hat nur noch wenige Schüsse frei, bis sich die Welt auch an die dort auftauchenden Wahrheiten gewöhnt hat. Insider-Kriegsnachrichten aus Pakistan oder Jemen hätten wohl kaum noch Schlagkraft. Die angekündigten Dokumente aus einer Bank könnten nochmal gut zünden, bevor es akzeptiert ist, dass Banken kaum mehr tun, als Bail Outs in Boni zu verwandeln – belegende Dokumente hin oder her.
(Bild: sima dimitric)
Ich denke, man müsste noch stärker betonen, dass es – wie du schon schreibst – weniger um Transparenz als Wert geht, sondern um die Kontrolle von Kampagnen, Öffentlichkeitsarbeit und Agenda Setting, kurz Spin, geht. Das ist ja das, was die Regierungen derzeit so empfindlich trifft: Sie haben selbst keine Kontrolle darüber, ob etwas und wenn ja, wann es veröffentlicht wird. (Schockierende) Transparenz der Ereignisse werden, wie du richtig feststellst, nach eine Welle der Moralempörung nur noch mit einem Schulterzucken in den Alltag übernommen. Klimakatastrophe, Umweltzerstörung, Krieg, Terror, Hunger, Staatspleite, alles reiht sich aneinander. Na und?, denkt man sich, was kommt morgen?
Das Wissen um Unrecht, Kungelei, Betrug und Misswirtschaft schafft allein noch nicht die Möglichkeit, etwas zu ändern. Von wem auch immer und in welche Richtung auch immer. Es bedarf des historischen Momentums, der zufälligen Konstellation und nicht zuletzt den erfolgreichen Spin. Und genau das fehlt Wikileaks. Wahrscheinlich wollen sie das auch gar nicht. Aber die Frage ist dann halt, ob und wer sich findet, die neuen Informationen zu nutzen und ob es überhaupt eine Gelegenheit gibt. Man darf ja nicht vergessen, dass „das Establishment“ über die entsprechenden Doktoren verfügt und somit dafür sorgen können, dass auch schockierende, überraschende und erregende Informationen einfach im Strudel des Alltags eingereiht werden.
Transparenz selbst ist nämlich ziemlich unhandlich und stellt man sie als Wert zentral, dann funktioniert die Sache mit dem Spin nicht mehr. Deshalb sehe ich Wikileaks auch nicht als aktiven Player, zumindest nicht im Sinne eines Spins. Die funktionale Unverträglichkeit von Spin und Transparenz ließe sich wohl auch am Scheitern der Liquid Democracy durchspielen, vermute ich. Die These würde lauten: eine Partei braucht Spin, kann ihn aber nicht entfachen, wenn sie voll auf Transparenz setzt.
Wir hätten für solche Meldungen weder in unserem Kopf noch in unserer Lebenswelt ein Skript, das uns diese Nachrichten sorglos verarbeiten/ertragen ließe. Der 11. September 2001 ist dafür ein gutes Beispiel. Viele wissen immer noch, dass es ein Dienstag war, wohin sie auf dem Weg waren, mit wem sie sich unterhielten – weil sich der Tag nicht einfach ein- bzw. wegsortieren lässt.
Was ist mit den ,die sich nicht mehr daran erinnern das es ein Dienstag warob wohl sie das im Fernsehen mit angesehen haben.
Nicht alles läuft bei mir so,wie in dem Beitrag beschrieben,aber warum bin ich zu sensibel? Ich weiss es nicht.
Interessanter Artikel, der leider das Wesentliche ausspart.
Wer ist der Erfinder von Peak Oil? Wer ist der Erfiner der Erderwärmung? Wie schafft man es, dass Millionen Tote durch Bio-Sprit nicht zur Kenntnis genommen werden, während Menschen, die diesen Tanken ernsthaft glauben, etwas Gutes zu tun?
Die Ursache dafür ist wie bei Wikileaks eine Propagandamaschinerie ohne Beispiel. 500 Multis kontrollieren 53,8 Prozent des Weltsozialprodukts. Eine Macht, die in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Weitere Analysen über die Steuerung des menschlischen Gehirns werden von den 500 gerne entgegengenommen. ;-)
@Enno Also ich bin immer noch der Meinung, dass aus dem Informationscode ein Relevanzcode geworden ist, der die Medien antreibt. Auch wenn es immer noch Fakten gibt, die wirklich geheim sind und bei Veröffentlichung dann völlig *neu*.
Von daher denke ich auch, dass die interessante Idee Spin und Transparenz auf deine Art gegenüber zu stellen nicht ganz die Wirklichkeit widerspiegelt. Zum Spin gehört ja auch, unangenehme News im richtigen Moment zu „entsorgen“ – zu publizieren, ohne dass sie als relevant aufgegriffen werden…
@Habnix Naja, du hasst in dem Sinne ein Punkt, als das auch nur 98,33% auf der Welt wissen wer Micheal Jackson war.
@piwi Hoffentlich lassen die Fortunes dafür auch mal Geld rüberwachsen.