Ideeninfizierung und Immunreaktionen

Frank Rieger hat in der heutigen FAZ einen 2000-Worte Artikel geschrieben, der eindrucksvoll und historisch unterfüttert aufzeigt, wie die Gesellschaft in das Atomzeitalter hineingestolpert ist. Am Anfang stand die theoretische Erkenntnis. Das darauf folgende Manhattanprojekt führte zur Bombe. Beim Plutonium brüten fiel die Wärme an, die anfangs noch als lästiges Abfallprodukt bald zur Idee der zivilen Atomkraft-Dampfmaschine führte und drei Jahrzehnte später standen in der ganzen Welt Atomkraftwerke. Soweit ist es, extrem nüchtern betrachtet, eine soziologische Bilderbuchgeschichte. Eine wissenschaftliche Idee führte zu politischen Ideen, die sich auch wirtschaftlich auszahlten. Ohne zentrale Kontrolle, ohne finale Absichten blühte eine Idee auf, die der Menschheit Siege, Wohlstand und Kontinuität brachte – bis eins, noch eins und noch ein weiteres Atomkraftwerk kaputt gingen und schlagartig gelernt werden musste, dass die Realität nicht nach Lehrbuch funktioniert. Nur war das Lernen jetzt nicht mehr partikulares Anliegen, sondern gesellschaftlicher Auftrag.

Frank Rieger beschreibt ein Problem, dass durch seine potenzielle Katastrophalität besonders attraktiv für solch eine Analyse ist. Wenn man von diesem (hoffentlich) singulären Thema Abstand nimmt, kommt man zu der Feststellung, dass der beschriebene gesellschaftliche Aktionismus trotz Blindheit der (erzwungene) Normalfall ist. Die Gesellschaft hat schließlich zwei große, unlösbare Probleme. Sie kann weder ihre Zukunft noch ihre Umwelt beobachten. Sie kann erst dann mit dem unbestimmten Irgendwas etwas anfangen, wenn es bereits in Kommunikation übersetzt wurde, also als (wirtschaftliches, wissenschaftliches, politisches, künstlerisches, …) Wissen zur Verfügung steht. Die Gesellschaft ist also ziemlich blind. Und von dieser Blindheit betroffen sind ebenso Organisationen und Interaktionen. Interaktionen bleibt manchmal nichts anderes übrig, als das Wetter zu thematisieren, weil für alles andere die kommunikative Grundlage und Historie fehlt. Organisationen sind ebenso oft zum Blindflug verurteilt.

Organisationen haben allerdings den Vorteil, strukturelle Kopplungen institutionalisieren zu können. Beispielsweise stehen Wirtschaftsunternehmen bei der Nachwuchssuche den Familien als „Nachwuchslieferanten“ nicht vollständig blind gegenüber, sondern greifen auf die Bildungszertifikate zurück, die der Nachwuchs in Schulen und Universitäten erhält. Ebenso verfügen sie, bei Bedarf, über eigene wissenschaftliche Forschungseinrichtungen oder haben geplanten, regelmäßigen Kontakt zu wissenschaftlichen Organisationen. Auf strukturell gleiche Weise versorgen sich politische Organisationen mit Wissen, welches sie, trotz Angewiesenheit, nicht selbst erzeugen können. Nur selten, etwa in der Wissenschaft mit Hilfe von Theorien und Methoden (und naturwissenschaftlich-technischen Maschinen), greifen Organisationen noch auf die gesellschaftliche Umwelt direkt zu und lassen sich von ihr beeindrucken. Im Normalfall lassen sich die Gesellschaft und ihre Organisationen nur noch durch sich selbst überraschen: per Marktpreise, Umfragewerte, Studien, Zeugnisnoten, … .

Es ist nun an dieser Stelle auffällig, dass die Atomkraft nicht das einzige Phänomen ist, das sich auf diese Weise durch die Gesellschaft schlängelt und mal hier und mal da für Rasonanzfähigkeit sorgt. Dieses episodenhafte Andocken von Ideen an unterschiedliche soziale Rationalitäten ist der übliche Fall. Von Etappe zu Etappe wird neues Wissen gewonnen, Altes verworfen oder wieder neu kontextualisiert. Ohne einheitliche Linie und Gesamtplan werden einzelne Ideen auf ihrem Weg durch die Gesellschaft mal so mal anders organisational ausgebeutet. Und bis sich Historiker daran setzen, diese Wege nachzuvollziehen, wissen wir darüber nicht viel, sondern stolpern von einer Überraschung in die Nächste.

Soziologisch interessant wird es dann, wenn die Überraschungen darauf beruhen, dass die Schnittstellen in denen Wissen transferiert wird, nicht mehr richtig funktionieren und noch keine neuen Schnittstellen entwickelt / evoluiert sind. Über diese gesellschaftlichen Betriebsblindheiten könnte man beinah ein Buch schreiben, was sich alle 5 Jahre auch pointiert aktualisieren ließe. Zurzeit gäbe es folgende berichtenswerte Auffälligkeiten.

1. Statt, dass sich Universitäten und Unternehmen auf die Bildungszertifikate konzentrieren um ihre Nachwuchsrankings zu bilden und Personal zu finden, gehen sie dazu über den Outcome-Listen nicht mehr zu vertrauen und eigene Input-Listen zu generieren: Universitäten veranstalten Eingangstests und Unternehmen halten „Startup“-Stellen bereit, in denen sich die Kandidaten erst eineinhalb Jahre unter Aufsicht beweisen müssen. Bislang gibt es aber noch Schulen, schließlich müssen die Kinder, denen Lohnarbeit verboten ist, irgendwie beschäftigt werden.

2. Die „Wirtschaftskrise“ seit 2008 führte nicht nur dazu, dass Unmengen von Geldwert vernichtet wurden, sondern hatte auch einen Vertrauensverlust in den Beobachtungsapparat der Ranking-Agenturen zur Folge. Seit dem, so scheint es, greift man zur Einschätzung von Kreditrisiken vermehrt auf Marktpreise (von Kreditversicherungen) zurück. Bislang halten sich die Agenturen aber noch gut, weil es noch keinen Ersatz dafür gibt, Rankings als Orientierungspunkte in Verträgen zu verwerten.

3. Ebenfalls seit 2008 bemerkt man in der Politik eine gewisse Blindheit gegenüber den wirtschaftlichen Vorgängen. Das schöne System über die politisch kontrollierte Wirtschaftsprüfung von Unternehmen funktioniert nur mangelhaft, ohne dass bislang ein Vorschlag gekommen ist, wie es substanziell erneuert werden kann. Nebenbei wurde bemerkt, dass die EU nicht mal in der Lage ist, sich vom Staatshaushalt eines EU-Mitgliedsstaates (Griechenland) ein wirklichkeitsgetreues Bild zu machen. Es handelt sich um ein weithin ungelöstes Problem, wodurch die Politik regelmäßig von der Wirtschaft überrascht wird und im Gegenzug die politischen Kontrollversuche die Wirtschaft überraschen.

4. Die Politik hat / bekommt zudem ein grundsätzliches Problem. Sie hat keine Zeit mehr selbstständig zu agieren. Sie ist derzeit zwischen wissenschaftlichen Kommissionen und wirtschaftlichen Lobbys eingekeilt. Die Ersteren verschaffen ihr Zeit (auf Kosten von Wissen = Unsicherheit), die Letzteren drängen auf Geschwindigkeit, irgendwo dazwischen versucht man den Ansprüchen des Wahlpublikums zu genügen. Ein geordnetes Zirkulieren von Ideen zwischen (wissenschaftlicher) Möglichkeit und (wirtschaftlicher) Nützlichkeit ist kaum mehr möglich. „Gemeinwohl“ wird allmählich eine Idee fürs Museum.

5. Wenn Katastrophen wie die in Japan passieren, reicht der Kennzifferapparat, an dem sich die Politik orientiert, kaum aus, den Schaden zu erfassen und politisch gesichert zu entscheiden. Die Infrastruktur geht auf jahrelanges Bauen und Investieren zurück, der Wiederaufbau geht über Jahre – die Einjahressensorik per BIP kann solch eine Naturkatastrophe gar nicht von sich aus registrieren. Zudem spielt es eine Rolle, wenn Versicherungen aufgrund der Schadenshöhe komplett ausfallen und dieser Ausfall durch politische Entscheidung kompensiert werden muss, obwohl die Politik gar keine Programme hat, den Schaden genau zu erfassen.

6. Die Orientierung an Börsenpreisen ist ein Relikt aus der Zeit, in der der Spruch „Die Börse ist zu 90% Psychologie“ noch galt. Denn die Semantik der Börsenhändler ist zunehmend ersetzt worden durch die Syntax der High-Frequency-Trading-Computerprogramme. Außerdem – dass passt gerade auch gut zum Atomkraft-Diskussionbeitrag: „Wir brauchen neue, bessere Sicherheitstechnik“ – gibt’s immer mehr Indizes, die nur noch die Börsen selbst beobachten. Statt Aktien mit Bezug auf Nachrichtenlangen zu handeln, handelt man heute Optionen und Futures mit Bezug auf Marktvolatilität und das noch gestützt durch Syntax-Automatismen. Wahrscheinlich wird nirgendwo so viel Wissen produziert wie im Börsenhandel und wahrscheinlich ist man nirgendwo sonst so blind wie dort. (Jedenfalls ist das Potenzial für Überraschungen besonders hoch.) Eine der gängigen Theorien ist ja, dass das Atomkraft-Moratorium für die Atomkraftwerksbetreiber so problematisch ist, weil der mit den abgeschalteten Atomkraftwerken zu erzeugende Strom schon längst verkauft ist und dieser Verkauf die üblichen Optionen- und Futures-Kaskaden losgetreten hat, die sich kaum geordnet zurückführen lassen, sondern die Energiefirmen in Zugzwang bringen, „echte“ Werte den „konstruierten“ nachzuliefern.

Frank Riegers Plädoyer, mangelhafte Technik nicht allein durch weitere Technik zu „verbessern“, und sich auch nicht allein auf die involvierten Naturgesetze der Physik beim Prognostizieren zu verlassen, könnte man also ausbauen. Man könnte fordern, bestehende institutionalisierte Kopplungen, die sich natürlich von allein einspielen, auf ihren Folgenreichtum hin zu untersuchen. Es ist ja schon verwunderlich, dass wir auf der einen Seite einen fast religiös beschriebenen Kapitalismus pflegen, dessen Prinzip nicht durch Auslese, sondern politische Planwirtschaft als letzter Rückhalt gestützt wird. Der Begriff „systemrelevanter Einheiten“ passt eigentlich überhaupt nicht zur aktuellen Ideologie. Statt unabschaltbarer Atomkraftwerke und unverzichtbare Banken könnte man es mal wieder mit einer ungewöhnlichen Politik versuchen. Die müsste gar nicht so viel regieren, sondern nur im richtigen Moment reagieren, wenn mal wieder irgendwo in der Gesellschaft an einer Idee gearbeitet wird, die im Falle des Scheiterns 250 Jahre Nacharbeitung erfordert.

(Bild: Reini68)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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