Soziologie zum Spaß

In seiner allerletzten Mission ist Captain Picard ganz allein (TNG S07E25). Er muss eine Anomalie verhindern, die er in der Zukunft verursacht, die sich in der Zeit rückwärts ausbreitet und die das Universum verschlingt. Das ist selbst für Star-Trek-Verhältnisse spektakulär, denn diesmal hilft die Technik nur in zweiter Linie, das eigentliche Problem bedarf einer anderen Behandlung. Der Captain muss es in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft auf gleiche Weise lösen. Sein Zusatzproblem, das er unkontrolliert zwischen den drei Zeiten hin und her springt, kommt ihm für diese Mission noch als Glück im Unglück entgegen. Am Ende steht die Enterprise-Welt also kopf. Nicht das Universum gibt die Orientierungswerte Raum und Zeit vor, sondern das Individuum ist der archimedische Punkt. Die Zeit verläuft nicht mehr und der Raum zergeht im „Nichts“.

Ganz zum Schluss steht der Captain am ersten Arbeitstag vor seiner Brückencrew und muss sie in den Tod schicken. Auf die Frage nach einer Erklärung antwortet er:

I understand your concern Lieutenant, and I know, if I were in your position, I would be doing the same thing: Looking for answers, but you’re not gonna find it. Because I don’t have any to give you. (…) Now, this will put the ship at risk. Quite frankly, we may not survive. But I want you to believe, that I am doing this for a greater purpose. And that, what is at stake here, is more than any of you can possibly imagine. (…) I am asking you for a leap of faith. And to trust me.

In einer unbegreiflichen (Um)Welt bleiben also zwei Standpunkte um sie aus den Angeln zu heben: Die Orientierung an einer sozialen Ordnung, mit einem Captain an der Spitze und das Vertrauen in die Person Jean Luc Picard. Soweit die Fiction.

Jetzt Nonfiction, soweit man es sagen kann. Irgendwann im späten Mittelalter, gab es in Europa eine Zeit, in der Bauern ständig davon bedroht waren, dass Ritter in Gruppen von 20 Mann durch die Landschaft streiften und hier und da „Quartier bezogen“. Rückblickend handelt es sich um „Kriminalität“. In der Zeit war es eine übliche Form der Selbstversorgung und „Profiterwirtschaftung“. Ritter zogen im Auftrag / geduldet von ihren Landesherren los und raubten die Dörfer der Konkurrenten leer. Ihr Risiko bestand darin, von wehrhaften Bauern erschlagen zu werden – Strafe im heutigen Sinne gab es eigentlich nicht.

Die Zeit, in denen Fehden ein normales Sozialmodell darstellten, und die Ritter eine Stütze der sozialen Ordnung waren, war kurz. Söldnerarmeen übernahmen ihre Aufgabe, Städte wehrten sich aktiv. Die Ritter verloren ihren politischen Sinn und ihren wirtschaftlichen Rückhalt, sie wurden von der Geschichte verschluckt.

Die beschriebene Star-Trek-Zukunft und die Ritter-Vergangenheit lassen sich kombinieren: Immer wieder verlieren Individuen ihre Anbindung an die Welt und dies passiert stets in einer Form, die vorher undenkbar war. Captain Picard hat nicht damit gerechnet, dass die Zeit einmal rückwärts verläuft und er in ihr hin und her springt. Und die Ritter hätten nie gedacht, dass sie am Ende nicht einzeln totgeschlagen werden, sondern schlicht verarmen. Die Welt ändert sich einfach und aus der Perspektive des Individuums scheint es so, als bräche sie in sich zusammen. Es so zu beschreiben ist nicht falsch, es gilt aber glücklicherweise nur eingeschränkt, denn es ändert sich zwar alles aber nicht alles auf einmal – man hat die Chance zu lernen. Das Schicksal der Ritter teilen heute viele, doch es gibt die moderne Lösung der Umschulung und Neuausrichtung, individuell und organisational und vielleicht auch gesellschaftlich.

Nur wissen wir kaum, wie wir das beobachten können. Individuen können aus Gründen der technischen Mechanisierung Jobs verlieren. Organisationen können als Interessenverband starten und als Profitmaschine scheitern. Das Renommee eines Sportstars könnte, in der ein oder anderen sozialen Sphäre, die Ordnungsleistung eines wissenschaftlichen Doktorgrades übernehmen. Das alles ist denkbar, weil es vielleicht schon geschieht.

Was ist also mit dem, was erst noch kommt und schon von daher undenkbar ist? Dirk Baecker hat ein paar Vorschläge gemacht, die erwähnenswert sind, aus den geschilderten Gründen bewundernswert aber eben auch kritikbedürftig. Wenn man sein Thesenpapier durchgeht, bekommt man ein Grausen. Wird die Gesellschaft in der Zukunft unberechenbar? Spielen unsere Bildungsgrade keine Rolle mehr? Sind wir einer unkontrollierbaren Synthese sozialer und technologischer Maschinen ausgeliefert? Bleibt die Qualität der Dramatik, oder ist sie ein Produkt der gegenwärtigen Überlegungen? Die Thesen sind übersichtlich und lassen sich kurz aufgreifen.

Schon die Erste ist ein Hammer: Die nächste Gesellschaft erübrigt sich in Gegenwärtigkeit. Sie ignoriert Vergangenheit und Zukunft, weil sie deren Gehalt nicht mehr als Vergleichsfolie benötigt. Die nächste Gesellschaft befindet sich in steter Turbulenz und es kommt nur noch darauf an, im gleichen Rhythmus mitzuschwingen oder daran zu scheitern. Hm. Individuelle Bildungskarrieren, organisationale Erfahrung, Sozialisation – alles sinnlos? Ist die nächste Gesellschaft nur noch eine totale Situation?

Zweite These: Es wird keine Kreisläufe mehr geben, die ihr Gleichgewicht gegen Störung verteidigen, sondern umgekehrt. Die Störung wird der Normalfall, das Gleichgewicht die Angriffsfläche. Hm. Ich bin gespannt. Ich kann mir darunter kaum etwas anderes vorstellen, als dass ab sofort jegliche Restabilisierungsversuche durch das Zulassen von weiteren Variationen torpediert werden. Aber was bleibt dann vom theoretischen Paradigma, dass jegliche soziale Strukturen Erwartungsstrukturen sind???

In These zwei wird das System begrifflich postuliert aber konzeptionell negiert – in These drei betrifft dies gleich die primäre Gesellschaftsdifferenzierung. Statt funktionaler Differenzierung Netzwerke. Hm. Wie schließen sich eigentlich Netzwerke? Gar nicht. Und statt „sachlicher Rationalität“ nun „Kalkül“? Was ist denn der Unterschied?

In These vier steht sinngemäß: In der nächsten Gesellschaft basieren Erwartungen nicht mehr auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, sondern auf Wünschen und Vorstellungen an eine Zukunft, die durch ihren „noch nicht erreicht“-Charakter die Gegenwart stets als zu lösende Krise darstellen. Hm. In den Thesen eins bis drei sind verloren gegangen: System, Struktur, Systemrationalität, Vergangenheit und Zukunft als Erwartungshorizonte. In These vier gehen nun noch Gedächtnis und Erwartung aus Erfahrung mit über Bord. Die Konzepte „operative Schließung“, Geschichte, Lernen, … nichts bleibt.

So könnte man die Liste weitergehen. Ich bin mir nun nicht ganz sicher, auf welcher Ebene ich den Witz nicht verstehe. Auf Basis dieser Thesen wird demnächst diskutiert, die Teilnahmegebühr beträgt tausend Euro pro Nase. Aber was diskutiert man? Wie man die Systemtheorie mit Hilfe von Systemtheorie unbenutzbar macht und so ihren Zweck, die Beobachtung der Gesellschaft, im theoretischen Chaos ohne empirisches Substrat auflöst? Dass die Systemtheorie die Theorie der modernen Gesellschaft ist und sich für sonst nichts eignet?

Dem Thesenpapier fehlt es an Pragmatismus bzw., wenn es sich noch um Kulturtheorie oder Soziologie handeln soll, Kontakt zu ihrem Gegenstand. Soziale, gesellschaftliche Umbrüche können radikal sein aber anstatt mit Beobachtungsversuchen voran zu preschen, könnte man auch abwarten und mithilfe historischer Methoden eine empirische Diagnose probieren, der aktuellen Gesellschaft, wie sie, zugegebener Maßen, vielleicht schon nicht mehr vollständig in Gesellschaft der Gesellschaft steht.

Der mögliche Einwand, dass es die in den Thesen beschriebene Gesellschaft schon gäbe, ist nicht wahr. Noch niemand verzichtet aus guten Gründen auf einen ordentlichen Bildungsweg. Niemand löst sein Konto auf, weil er kein Geld mehr benötigt. Niemand, auch keine Börsenhändler, ignoriert was er gelernt hat und verlässt sich allein auf das „Flow-Erleben“. Niemand fährt in den Urlaub und befürchtet, beim nach Hause kommen eine unbekannte Gesellschaft vorzufinden, in der sich niemand interessiert, was man im Urlaub erlebt hat.

Die Thesen haben gewissen ästhetischen Wert. Sie sind nicht logisch aber diskutierbar. Sie lassen sich nur systemtheoretisch verstehen, verursachen ihre Faszination aber gerade durch ihren Abstand zur Theorie. Sie sind erstaunlich pauschal und erklärungslos, dafür dass ihr Autor sonst durch sehr ausschweifende Texte auffällt und immer in Erklärlaune ist. Insgesamt scheint es so, als handle es sich um ein Diskussionsangebot für Leute, die sich so sehr in die Eigenlogik einer Theorie verliebt haben, dass ihnen die Erklärungslogik, der eigentliche Sinn der Übung, egal ist.

Man kann auf diese Weise erklären, warum eine Raumschiff-Crew alle Orientierungswerte ignoriert und auf Basis einer kurzen Ansprache gemeinschaftlich eine unkontrollierbare, nicht verstehbare, nicht erklärbare Situation meistert. Aber man findet solch eine Raumschiff-Crew eben nur im Fernsehen und die Autoren, die sie geschrieben haben, haben ihr Szenario aus guten Gründen in die Zukunft gelegt. Weil sie so nicht erklären brauchen, dass ihre Vorstellungen von Sozialität und Individualität nichts mit sozialer Wirklichkeit zu tun haben.

(Bild: zabdiel)

Update: Das Beschriebene zielt nur auf das Thesenpapier. Dirk Baeckers „Studien zur nächsten Gesellschaft“ sollte man im Vergleich dazu lesen! Sie sind inspirierend, kurzweilig und man findet sich sofort in einer aktuellen Gesellschaftsbeschreibung wieder.

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

2 Kommentare

  1. Pascal sagt:

    Naja, Baeckers Thesen zur nächsten Gesellschaft sind eher nur wohlklingende Worte, die nur durch poetischen Schmalz zusammengehalten werden…Eher der Versuch Poesie mit Sozialwissenschaft zu verbinden (und komm‘ mir nicht mit Goethe oder Fabre!!! ;))

    Und wenn man die aktuelle Gesellschaftsbeschreibung darin wiederfindet, dann ist es eher eine schlechte Thesenzusammenstellung zum kommenden Gesellschaftsgefüge ;)!

  2. […] dass ihre Betrachtung als Treibstoff zur Fortsetzung des Meinungskampfes geeigent sind. Und sei es nur zum Spaß.Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich aus durch eine strukturelle Hilflosigkeit, deren […]

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