Wie wäre es mit Vertrauen?

Bei all den Lösungen, die diskutiert werde, werden Probleme übersehen. Diese Diagnose kann als die einzig richtige, heute gültige behandelt werden, weil sie inhaltlich so neutralisiert ist. Sie sagt nichts darüber, was ist, sondern nur, dass man es nicht weiß. Nun wird selbst die zeitgeistgegenwärtigste politische Partei gefragt, was in ihrem Programm steht, und anstatt die Frage mutig als absurd abzulehnen, gilt das alte Spiel, in welchem demnächst Inhalte versprochen werden, für eine Zeit, deren zukünftige Probleme erst recht unbekannt sind. Gibt es noch Vertrauen in Personen, Verfahren und Systeme? Wie viel Welt lässt sich einer Idee opfern, die fordert, Einblicke zu gewähren, aber nur aufzeigt, was man alles trotzdem nicht sieht? Warum qualifiziert man sich auch 2012 politisch noch mit Text und Phrasen, deren oberster Kritikpunkt ist, dass sie – wenn es dann tatsächlich darauf ankommt – nicht schnell genug vergessen werden können?

Im Zeitungsjargon heißt es, 2009 wurde eine Kanzlerin gewählt. In der Sprache des gemeinen Alltagsbürgers heißt es aber: Wir gaben ihr unser Vertrauen. Als der Lauf der Dinge eine Entscheidung einforderte, die fast alle auch ohne den Horror des Laufs der Dinge schon längst so entschieden hätten, hieß es: Sie widerspreche den politischen Phrasen. Aber was konnte man sich den mehr wünschen, als dass eine Physikerin zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und eine Entscheidung trifft, die alle mittragen? Man nahm sich die Zeit, die man für Konstruktives nicht hat, und übte Kritik. Schließlich ist man Konkurrent, soll es sogar sein. Auf Nachfrage gilt aber nur die Sprachregelung der Kooperation.

Sven Regener ist von den Piraten, die er namentlich kritisiert, gar nicht so weit entfernt. Politiker und Künstler verbringen ihren Tag mit Dingen, vor denen sich die Mehrheit gruselt. Sie testen, traktieren und tüfteln an Ideen und sie wissen nicht, wann sie erfolgreich sind. Am Ende der Arbeit von 100 Personenarbeitsstunden politischer Ausschussarbeit stehen vielleicht zehn Seiten Text. Am Ende einer Woche Selbstzweifel, Selbstausbeutung und Selbstsuggestion stehen bei Sven Regener ein paar Seiten Roman oder ein Lied. Politiker können über ihr Gehalt selbst entscheiden. Künstler nicht. Lässt sich das umkehren? Offenbar. Die Piratenidee beutet derzeit vor allem das Engagement von Privatmenschen aus, die für ihre politische Arbeit (an politischen Programmen!) nicht bezahlt werden, denen eher noch Zeit für anderes, viel Wichtigeres in ihrem Alltag und Leben, verloren geht. Wer sich bisher nicht aufgehoben fühlt, wird nun mit Gemeinschaft belohnt. Vielleicht sind die Piraten gar nicht viel mehr als eine Religionsgemeinschaft, die bei ihrem Herrn Rechte einfordert? Es lässt sich zumindest kaum behaupten, dass sie sich ihrer Idee, ihrem Weltbild weniger ausliefern, als tatsächliche Religionsgemeinschaften ihrem.

Und die Künstler? Das Argument, mit denen man ihnen begegnet reduziert ihre Werke auf die ununterscheidbare Flasche Milch im Supermarkt, nur dass die Flasche – und allein darauf soll es ankommen? – nicht verschwindet, wenn man sie stiehlt. Sondern sie vermehrt sich eben. Wenn sie nicht bezahlt wird, kann sie mehrfach getrunken werden und welcher Künstler lege nicht allein darauf wert, bekannt oder berühmt zu sein? Luft und Liebe – seit Jahrhunderten kokettieren Künstler mit einem der Sache verschriebenen aber entmaterialisierten Lebensstil, nun müssen sie ihn eben auch tatsächlich leben.

Sich dagegen zu behaupten scheint zwecklos. Die Piratenpartei rühmt sich damit, auf viele Fragen keine Antworten zu haben. Während in Griechenland die Jugend einen inneren und zuweilen auch schon offenen Bürgerkrieg führt, konzentriert sich der deutsche Ableger der Partei darauf, den vermeintlichen Hauptforderungen der jungen Generation zu genügen: Die Grundversorgung mit der globalen Medienproduktion muss individuell abgesichert werden. Notfalls durch den Umbau der Gesellschaft. 84 Punkte ist das Piraten-Papier zum neuen Urheberrecht lang. Es ist um 84 Punkte länger als die Papiere zu allen anderen Themen. Fahrscheinfreier Nahverkehr und bedingungsloses Grundeinkommen, darauf konnte man sich noch pragmatisch, nicht inhaltlich einigen. Bei den Piraten kommt die Idee des Kollektivs nicht mehr vor. Die Gesellschaft ist nun nur noch die Summe ihrer Einzelteile und wehe, der Einzelne wird doch irgendwo übersehen. „Transportation and Information“, für Winston Churchill waren das die Vorzüge der gesellschaftlichen Elite. Heute sollen sie die für jeden sein.

Dietmar Dath schreibt heute im F.A.Z.-Feuilleton darüber, dass wir in ein Gesellschaftsmodell stolperten, dessen Vorgängermodell wir noch nicht einmal verstehen. „Was am meisten zählt, rechnet sich immer weniger“. Das gilt heute mit dem Blick auf Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst, Bildung und Kultur. Aber galt es nicht auch schon eine Epoche davor? Nachdem Maschinen die körperliche Arbeit übernahmen, wurde es versäumt, über den Begriff der Arbeit neu nachzudenken. Statt dem geistigen Mitvollzug des Wandels arrangierte man sich mit seinem Ergebnis: Auf Märkten werden Produkte gehandelt. Und die Vergütung von Arbeit wurde an diese Vertriebsmechanismen der Produkte gekoppelt. Nun, da diese Mechanismen endgültig wegbrechen, wacht man plötzlich auf? Wie Gehälter und Gehaltsunterschiede zustande kommen, weiß noch heute niemand. Jeder zweite Nobelpreis für Wirtschaft ging an Spieltheoretiker. Um die Realität kümmert man sich schlicht nicht. Damals nicht und heute auch nicht.

Aber nun wird das Problem akut. Die körperliche Arbeit erledigt die Maschine, die geistige Arbeit erledigt heute der Computer. Ersetzen wäre ein falsches Wort. Maschinen und Computer machen ganz andere Dinge, als Körper und Köpfe. Es gibt, Dietmar Dath beschreibt es wunderbar, ein neues Paradigma, das in der algorithmischen Arbeit nicht mehr auf Zahlen und Gleichungen basiert und trotzdem einer Logik folgt. Einzelne Computer und Computernetzwerke sind nicht komplex. Sie werden es aber, wenn sie an Sozialität gekoppelt werden. Die Formlogik entfaltet ihren unbekannten Folgenreichtum in dem Moment, in dem Liquid Feedback, Facebook und die Google Suche Limitierungen menschlichen Verhaltens darstellen, gleichzeitig aber lernfähig werden.

Statistik, wie man sie im Psychologie- oder Soziologiestudium lernt, ist eine Technik, die Sozialität abbildet. Die Lehrbücher sind noch nicht aktualisiert, denn heute wird das abzubildende Verhalten durch die Technologie selbst ermöglicht und limitiert. Dietmar Dath beschreibt es über den Einzug der menschlichen Emotionen in die algorithmischen Gleichungen, die heute die Gesellschaft bestimmen. Das ist wahrscheinlich ein sehr passendes Bild. Denn Emotionen sind nicht andere Gedanken als rationale, sie gehören zur selben Form psychischer Operationen. Emotionen bestimmen rationales Verhalten, das gültige Bild ist vielleicht das der Oszillation. Und so ist es auch in der Kommunikation. Die Google-Suchen des einen haben Einfluss auf die Google-Ergebnisse des anderen. Das Betriebssystem ist von seinen Inhalten nicht mehr zu lösen. Es gibt keine zweiten Versuche im Kleinen und keine Reset-Knöpfe im Großen.

Im Börsenhandel kann man es seit etwa zehn Jahren sehen. Dath beschreibt den „SocialSTREAM“ des Financial Computing Centre des Londoner University Colleges. Daten aus sozialen Netzwerken werden dort ins Verhältnis gesetzt zu den Daten wie sich der Markt verhält. Die Streams werden über die Zeit getrennt beobachtet, mit der Vermutung, dass erstens der Markt auf das Soziale reagiert und dass, zweitens, diese Reaktion manchmal geordnet erfolgt. Es werden gleiche Muster in der Reaktion gesucht und isoliert. Auf diese Weise sollen auf Basis des Sozialen Vorhersagen zum Markt gelingen. Aber wird damit tatsächlich in die Zukunft gegriffen? Magische, mathematische, rationale, emotionale Strategien, sichere Erfahrungen in gesicherte Erwartungen zu übersetzen sind alles andere als neu.

Ein großer Trugschluss ist, dass die Trennung des Verlaufs der Gesellschaft in Sozialität hier und Markt da mehr als analytisch ist. Als würde der Markt nur auf Soziales reagieren, selbst aber nicht zu dieser Sozialität gehören. Niklas Luhmann hat in seiner Abschlussvorlesung eine der schwierigsten Fragen gestellt „Was ist der Fall und was steckt dahinter?“ Schwierig ist sie deshalb, weil die Antwort so einfach aber auch so unakzeptabel ist. Sie lautet einfach „nichts“. Aber sie gilt nicht einfach so. Sie sagt nur, dass jeder Versuch des Einblicks mit mehr Intransparenz, jede Suche nach mehr Sicherheit mit mehr Risiken & Gefahren und jede Formulierung von Antworten mit mehr Fragen vergolten wird. Aber die Vergeltung setzt eben erst ein, wenn man versucht zu schauen, was jeweils dahinter steckt.

Und nun die spannende Frage: wie weit wollen und können wir dieses Spiel treiben? Transparenz, Sicherheit und Antworten – das sind gute Ziele. Aber die Kosten an Unklarheit, Unsicherheit und Unzufriedenheit lassen sich nicht unendlich steigern. Warum sollte nach der Vertrauensblase (=Kreditblase) in der Wirtschaft nicht eine Vertrauensblase in der Politik platzen? Läßt sich aus dem Zustand der Schwedischen Vorreiter-Piraten nicht etwas herauslesen? Vor 14 Jahren ruhte die Euphorie der Börsianer auf der Entdeckung eines Spielzeugs, dass die Piraten derzeit für sich entdecken. Es ist faszinierend, dass der Erfolg der Piraten auf der Idee beruht, Vertrauen in Personen durch Transparenz in Verfahren auszutauschen. So, als ob genau das die alternativlose Lösung ist, die noch nie vorher versucht wurde und die nicht immer schon gescheitert ist.

Update: Dietmar Dath: Gemeinwissen gegen Geheimwissen

(Bild: Reway2007)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. Soziobloge sagt:

    Vertrauen ist ein wichtiger Faktor in der Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass man Vertrauen auf Dauer ersetzen kann. In einem Klima permanenten Misstrauens könnte ich nicht auf Dauer arbeiten. Schauen wir mal was passiert.

  2. Danke für die problemschärfende Anregung!

    Was der alte Luhmann Piraten schon zu sagen wusste:

    „Man mag die Hoffnung hegen, durch aufrichtige, vollständige Information Vertrauen zu gewinnen. Aber Vertrauen wozu? — wenn nichts verschwiegen wird. Vermutlich ist denn auch der Wunsch, besser informiert zu werden, eher ein Anzeichen für zunehmenden Vertrauensverlust als ein Mittel, Vertrauen zu gewinnen. […] Wieso sollte dann durch mehr Kommunikation der Empfänger eher bereit sein, anzunehmen als abzulehnen? Man müßte schon die Wahrheit und die Aufrichtigkeit mitkommunizieren können. Aber das ist, wie man seit langem weiß, unmöglich.“

    (Luhmann, Soziologie des Risikos)

  3. Soziobloge sagt:

    Wenn ich so darüber nachdenke kommt mir der Gedanke, dass die Piraten ja eigentlich das Gegenteil davon machen was sie propagieren. Sie wollen die größtmögliche Freiheit. Andererseits etablieren sie die größtmögliche Kontrolle. Zumindest bei den Amtsinhabern und den Prozessen, bei denen alles offengelegt und tranparent sein soll.
    Denkt man das Prinzip zuende und überträgt es auf die gesamte Gesellschaft, würde man Vertrauen durch totale Kontrolle ersetzen. Wer will so etwas?

    Vielleicht klingt das jetzt etwas übertrieben, aber mir scheint, das Konzept könnte sich in das Gegenteil von Freiheit verkehren.

    @M(en)o(i)t(ios) Ja da hatte der alte Luhmann wohl Recht.

  4. […] nach Piratenstories gesucht. Verbaut sind das Interview mit Marina Weisband, der Text über Politik und Vertrauen und der über die Liquid-Feedback-Roboter. Es handelt sich um drei Texte mit 3787 Wörtern. Damit […]

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