Anmerkungen zu: Stefan Kühl (2024), Organisationen im Labor: Grenzen der Simulation von Formalität in gruppendynamischen Trainings, Wiesbaden: Springer VS Verlag, 52 Seiten.

Andreas Amann, Oliver König, Karl Schattenhofer

Vorbemerkung

Stefan Kühl hat in den vergangenen Jahren wiederholt informative und weiterführende Beiträge geliert zum Systemtyp Gruppe und der Schwierigkeit, diesen in der systemtheoretischen Theoriekonstruktion zu verankern. Quasi als Nebenprodukt thematisiert er dabei immer mal wieder das psychosoziale Verfahren, das auf diesen Systemtyp abzielt, die Gruppendynamik. Im Unterschied zu seinen sonstigen Arbeiten kommen Kühls Anmerkungen hierbei nie ohne polemischen Unterton aus. Vor allem aber konstruieren sie einen Gegenstand „gruppendynamisches Training“, in dem wir unsere Arbeit, sowohl theoretisch-konzeptionell wie praktisch, kaum wiedererkennen. Der letzte Beitrag dieser Art ist der oben aufgeführte Titel Organisationen im Labor in der Reihe Essentials, laut Springer Verlagswerbung „Kompaktes Wissen für unterwegs“. Er hat uns zur vorliegenden Reaktion veranlasst.

Da wir alle, in unterschiedlicher Form, bislang gute Erfahrungen in der Kooperation mit Kühl gemacht haben und um seine Debattierfreudigkeit wissen, habe ich (OK) ihn auf dieses Vorhaben angesprochen. Er ist sofort eingestiegen und daraus sind der jetzige Rahmen und das kurze Format der Beiträge entstanden. Wir drei haben uns auf ein arbeitsteiliges Vorgehen verständigt und thematische Felder definiert, die wir auf uns aufgeteilt haben. Der erste Austausch darüber hat erst einmal zwischen uns einige kontroverse Diskussionen hervorgerufen, dies allein war es schon wert.

Die ersten beiden Punkte behandeln das Lernverständnis gruppendynamischer Veranstaltungen und die Frage, welche Themen sowohl in Gruppen wie in Organisationen vorkommen (KS). Dann folgen Überlegungen zur Theoriekonstruktion Kühls und ihren Konsequenzen, sowie Überlegungen zur theoretischen Unterfütterung gruppendynamischer Praxis (AA). Die letzten beiden Punkte greifen zuerst nochmals Fragen der Theoriekonstruktion auf, jetzt mehr in historischer Perspektive, und thematisieren die im Diskurs implizit mitverhandelte Problematik gegenseitiger (Nicht-)Anerkennung (OK).

Wir hoffen auf einen produktiven Streit.

1. Zur Frage der Simulation

1.1 Das gruppendynamische Laboratorium ist keine Simulation

Es ist Stefan Kühl uneingeschränkt zuzustimmen, dass in gruppendynamischen Trainings keine Organisationen simuliert werden

Unverständlich ist uns aber seine Annahme, dass dies in erster Linie intendiert sei. Es gab (und gibt) solche Argumentationslinien, diese sind aber nur ein Teil der GD. Kühl geht von einem zu einheitlichen Bild von gruppendynamischer Praxis aus. Die Diskussion der Relevanz von GD für Organisationen gab und gibt es auch innerhalb der GD. Heute wird sie eher zurückhaltender und bescheidener beurteilt

Nach unserem Verständnis (1) ist ein gruppendynamisches Training und die gruppendynamische Trainingsgruppe keine Simulation oder eine Art Planspiel, in dem ein soziales System, eine Situation „draußen“ nachgebildet werden soll. Es ist auch kein Methodenseminar, in dem man 1:1 lernt, wie man sich draußen, z.B. in Organisationen erfolgreich verhalten kann. Ganz im Gegenteil: Vor der unreflektierten Übertragung in die Praxis wird ausdrücklich gewarnt.

Für eine Organisationssimulation hält es aber Kühl, wenn er feststellt, dass man in solchen Gruppen nichts über Organisationen lernen könnte, weil diese ganz anderen – formalen – Regeln folgen.

Die Gruppendynamische Trainingsgruppe wurde als spezieller Lern- und Erfahrungsraum entwickelt, in dem die Beteiligten etwas über sich, ihr Verhalten und ihre Wirkung und zugleich etwas über die Entstehung eines „reflexiven“ Sozialsystems erleben und lernen können. Dazu wurden Vorgehensweisen ge- und erfunden, die sich ganz deutlich von den sozialen Kontexten „im wirklichen Leben“ unterscheiden. In der Trainingsgruppe wird vieles auf den Kopf gestellt:

• Die Leitungspersonen verhalten sich in keiner Weise so, wie man es von ihnen „draußen“ erwartet. Sie eröffnen und bewahren einen kommunikativen Raum, aber sie füllen diesen nicht. Sie leiten nicht.
• Es gibt keine Aufgabe im herkömmlichen Sinn, die handgreifliche Sache fehlt, die sonst ein Team zu einem Team macht. Die Aufgabe ist, die Gruppe zu bilden und zugleich darauf zu schauen, wie sie sich entwickelt.

Beide Aufgaben irritieren und verunsichern die Teilnehmenden. Beim Stolpern über Ungewohntes stößt man auf die eigenen Gewohnheiten. Eintrainierte Routinen greifen nicht, man muss neu anfangen, sich verständigen und sich beim Verständigen beobachten und sich über die Beobachtungen austauschen.

1.2 Verschiedene Modelle von Lernen: Lernen im Kontrast – lernen in der Ähnlichkeit

Kühls Gegenüberstellung von Gruppe und Organisation führt zu der These: In Trainingsgruppen kann man nichts über und für Organisationen lernen, weil sie eben keine Organisationen sind. Dem liegt das Lernverständnis zu Grunde: Nur wenn der simulierte Kontext möglichst genau dem Simulierten entspricht, kann man dort etwas lernen.

Die gruppendynamische Trainingsgruppe setzt dem gegenüber gerade nicht auf Ähnlichkeit des Kontextes, auf den das Lernen bezogen ist, sondern auf den Kontrast, den ungewohnten Unterschied. Alles ist anders, man kann sich nicht auf eine Organisationsrolle beziehen, auf keine Tagesordnung, kein Regelwerk, keine Position in der Hierarchie, die erwartete Führung geschieht nicht. Zunächst ist man ganz auf sich selbst angewiesen, auf das, was man gelernt hat. Man bringt das eigene Muster, die eigene Erfahrung und Lerngeschichte mit und all dies wird für einen und die anderen erlebbar. Das wäre in einem auf Ähnlichkeit getrimmten Kontext nicht möglich, in dem man auf gewohnte Weise mitschwimmen kann, ohne dass es bemerkt würde, weil es zum Kontext passt.

2. Inhaltsebene: welche Themen kommen vor – in Gruppen wie in Organisationen?

Zunächst einmal geht es in Gruppendynamischen Laboratorien darum, den Wechsel zwischen Aktion und Reflexion, zwischen Engagement und Distanzierung, zwischen Kommunikation und Metakommunikation zu erfahren, zu praktizieren und damit zu lernen.

• Wer an einem gruppendynamischen Training teilnimmt, lässt sich auf ein Experiment ein, an dem jede*r einerseits als Akteur*in an der Gestaltung des gemeinsamen Prozesses beteiligt ist und andererseits als Forschende, die diesen Prozess wahrnehmen, beschreiben und zu verstehen suchen. Es wird die Fähigkeit zur Metakommunikation, zum Ebenenwechsel, zur Reflexion trainiert.
• Die Verwobenheit der eigenen Person mit dem sozialen System, in dem alle sich bewegen, wird erlebbar. Alles, was jemand sagt, tut, nicht tut, nicht sagt, hat eine Wirkung auf die anderen und keinesfalls nur die beabsichtigte. Der Unterschied zwischen dem, wie etwas gemeint ist und dem, wie etwas ankommt, zwischen Intention und Wirkung, kann erfahren und untersucht werden.
• In der Summe der Trainingserfahrungen geht es um die Fähigkeit, individuelle (Wahrnehmungs- und Verhaltens-) Muster und gruppen- und interaktionstypische wahrzunehmen, zu verstehen.

Im gruppendynamischen Training geht es um die Erfahrung und Reflexion grundlegender interaktiver Dynamiken, universeller Vergemeinschaftungsprozesse zwischen Menschen in sozialen Beziehungen. Diese lassen sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten finden, also in Gruppen wie in Organisationen. Ziel ist es, über die Erfahrung in der Laborsituation einen experimentelleren und angstreduzierten Umgang damit zu entwickeln. Als Beispiele seien genannt:

• Wie entsteht Zugehörigkeit und Anerkennung in einer Gruppe oder einem Team? Jenseits der formalen Bestimmtheit braucht es dazu die Anerkennung als Mitglied durch die anderen im Team, und vom einzelnen die Bereitschaft, Möglichkeit und Fähigkeit ein Mitglied zu sein. Womit riskiert man die Zugehörigkeit und kommt in eine Außenseiterposition?
• Wie entsteht Führung und Gefolgschaft in der Gruppe, wie stabil sind diese Muster? Wie wird der Konflikt mit einer Leitung, die nicht leitet, ausgetragen? Das Phänomen der Macht in Gruppen wird dadurch erfahrbar, muss dazu in der Laborgruppe teilweise außer Kraft gesetzt werden.
• Was sind die formellen und die informellen Normen, an die man sich hält oder glaubt, halten zu müssen? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?
• Welche Rolle spielen Konflikte, Spannungen, Auseinandersetzungen, alles eher mit unangenehmen Empfindungen und Erlebnissen verbunden, bei der Entwicklung der Gruppe? Wie gestaltet sich die Balance zwischen Spannung und Entspannung? In welcher Beziehung stehen differenzierende und integrierende Ereignisse?
• Welche unterschiedlichen Verhaltensrollen differenzieren sich aus? Was hat dies mit den persönlichen Verhaltensmustern zu tun, was davon aber nicht? Wie flexibel sind diese Muster?
• Welche thematischen Grenzen entstehen in der Gruppe? Wie wird mit dem „Zwang zur Selbstdarstellung“ (Claessens)(2) umgegangen? Gibt es eine Unterscheidung zwischen „persönlich“ und „privat“?

Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Die einzelnen dieser Prozessthemen lassen sich an Beispielen aus der Arbeit in und mit Trainingsgruppen veranschaulichen. Damit kann man deutlich machen, wie sie im Prozess eines fünftägigen gruppendynamischen Trainings auftauchen, wie der Erfahrungsraum dazu konkret aussieht. Das würde aber den Rahmen dieses Diskussionspapiers sprengen.

3. Unterschiedliche theoretische Positionen

In zahlreichen Varianten legt Stefan Kühl seit einigen Jahren eine Kritik der Gruppendynamik vor, die sich streng an der Luhmannschen Position zu Gruppen und Organisationen orientiert und sie im Blick auf gruppendynamische Theoriekontexte ausfaltet. Er bezieht sich dabei im Kern auf Luhmanns theoriestrategisch motivierte Entscheidung, der Gruppe keinen eigenen Platz in seiner Theorie zuzuerkennen, sondern sie in der Trias: Organisation, Person und Interaktion aufgehen zu lassen.

Gruppen spielen im Denken Luhmanns keine Rolle, nur in den postum veröffentlichten Zettelkasten finden sich Überlegungen über Gruppen als „einfache Sozialsysteme“ (Kühl, 2024, S. 6), die er nutzt, um davon Organisationen als ausdifferenzierte Sozialsysteme abzugrenzen. Luhmanns Bemerkungen über Gruppen aus seinem Zettelkasten zeigen, dass er Gruppen theoriestrategisch nicht richtig einzuordnen wusste oder wollte.

Auf der Grundlage dieser theoriestrategischen Vor-Entscheidung Luhmanns entrollt sich die Kühlsche Argumentation, die er „differenzierungstheoretisch“ (a.a.O.), anlegt und in der er versucht, „spezifische Systemcharaktere“ zwischen Gruppen, Organisationen und Teams herauszuarbeiten.

Skizzieren wir kurz den Grundgedanken von Kühls Argumentation: Organisationen bilden sich als System über eine funktionale Abgrenzung zur Umwelt und über darauf aufbauende Ziele. Diese Ziele erfordern eine dazu kongruente Zugehörigkeit der Organisationsmitglieder und diese Zugehörigkeit manifestiert und bewährt sich in einer dazu kongruenten Rolle. Organisationen leben also von Rollenerwartungen und Menschen, die diese Rollen entsprechend ausfüllen sollten, wollen sie ihre Zugehörigkeit zur Organisation nicht aufs Spiel setzen. Hier bleibt Kühl streng in der von Talcott Parsons entwickelten und von Luhmann ausgefalteten zentralen Differenz von Person und Rolle oder rollenförmigen Sozialbeziehungen und diffusen Sozialbeziehungen. In Organisationen tauchen Personen nur als Störungen auf, wenn Rollenträger ihre affektreiche Körperlichkeit in die Abläufe organisationaler Entscheidungsbildung einfließen lassen.

Im organisationalen Alltag koordinieren Rollenträger ihr Handeln in der Regel in Teams. Teams sind jene Sozialform, die am besten funktioniert, wenn Rollenträger streng den an sie gestellten Rollenerwartungen entsprechen und die kreativen Ausflüsse ihrer personalen Freiheit in den „Dienst der Sache“ stellen. Personen bilden zwar den unausschöpflichen Fundus nicht-prognostizierbaren innovativen Handelns, jedoch muss an dieses Handeln im organisationalen Entscheidungsprozess von den anderen Mitgliedern der Organisation angeschlossen werden können. Sollten die Irritationen über das innovative Handeln einer Person im Kontext der Organisation überhandnehmen, schickt man sie vermutlich zuerst ins Coaching, bevor man deren Kündigung erwägt. Das unterscheidet Organisationen von Familien und Freundschaften, denn in letzteren sind Kündigungen Katastrophen, während sie in Organisationen eher eine funktionale Hygienemaßnahme darstellen. So weit so gut.

Nun sind Menschen affektreiche Wesen, die unter stressfreien Bedingungen durchaus in der Lage sind, ihre Affekte im Rahmen ihrer Rolle zu bändigen und funktional zu nutzen, sei es zur Klärung von Differenzen oder Krisen. Überschreitet der äußere oder innere Stress eines Team- oder Gremienmitglieds, einer Führungskraft oder eines Mandatars jedoch eine individuelle Grenze, sehen sich Organisationen mit dem Einbruch von erratisch persönlichem Material in die eingespielten Abläufe der Organisation konfrontiert. Solch individuelles, persönliches rollen-inkonformes Material, das dann über die Rollenerwartungen hinausdrängt, ist in der Regel biographisch bedingt. Das nennen psychoanalytisch gebildete Gruppenpraktiker dann Übertragung. Übertragung meint auf die Kurzform gebracht, die situationsinadäquate Nutzung früher Verhaltens- und Wahrnehmungsschablonen zur Bewältigung gegenwärtiger Rollenanforderungen: The past in the present. Schon Parsons hielt dieses Konzept „für eine der größten Entdeckungen Freuds“ (3). Übertragung meint also die universelle Regressionstendenz, rollenförmige Sozialbeziehungen in „diffuse“ Sozialbeziehungen mit den in ihnen geltenden Strukturbestimmungen zu verwandeln (4).

4. Praktische Umsetzungen in der Gruppendynamik

Das ist nun die Stelle, die uns Gruppendynamiker*innen interessiert. Doch richtet sich unser Interesse nicht auf die individuellen Regressionstendenzen, sondern auf die kollektiven Phänomene, wenn in Teams affektgrundierte Dynamiken entstehen, die das zielorientierte Handeln erschweren, wie z.B. Konkurrenz, Rivalität, Subgruppenbildung, Außenseiterdynamiken. Wie Systemtheoretiker*Innen gehen wir davon aus, dass wir es in Organisationen mit Rollenträger*innen und der dazu gehörenden Sozialform des Teams zu tun haben. So lange Teams tun, was sie tun sollen, sind sie für die gruppendynamische Forschung wenig interessant. In dem Augenblick, wenn Teams das nicht mehr tun, weil affektreiche und regressive Kollektivkräfte das Feld des Teams überschwemmen, haben wir es – in unsere Terminologie – mit Gruppendynamik zu tun. Dann verwandelt sich ein Team in eine Gruppe mit den dazu gehörenden universellen Dynamiken. Man kann nun – auch wenn zahlreiche Berater*innen das immer wieder zu tun versuchen – Teams nicht durch beharrliche Ermahnungen an die Einhaltung ihrer Rollenerwartungen aus ihrer Dynamik holen. Sondern Teams, geraten sie in eine Gruppendynamik, brauchen komplexere Reflexionsprozeduren, um sie wieder im vollen Sinne arbeitsfähig zumachen, so dass ihre Mitglieder wieder hinreichend funktional ihren Rollenerwartungen nachkommen können.

Gruppendynamik als angewandte Sozialforschung befähigt die Teilnehmenden in gruppendynamischen Laboratorien, diese Umschlagmomente von Teams in Gruppen in situ und im Schutz eines laboratorischen Settings zu erleben, wahrzunehmen und zu erforschen. Im besten Fall erfahren die Teilnehmenden, dass sie zwar in ihren beruflichen Kontexten als differenzierte und rationale Rollenträger handeln sollten, dass sie aber in kritischen, belastenden Situationen von individuellen wie kollektiven Dynamiken erfasst werden können. Sie können diese Dynamiken als universelle Prozesse verstehen lernen, die das Handeln in Organisationen erschweren und bisweilen sogar verunmöglichen können. Gruppendynamische Laboratorien sind eine Art kognitive und habituelle Impfung für die ubiquitär stattfindenden Vergemeinschaftungsprozesse, die Teams in Gruppen verwandeln können. Die erfahrungsgesättigte Annahmen, dass der Untergrund aller Teams und rollenförmiger Kooperation immer von solchen affektreichen Dynamiken durchzogen ist, lässt Gruppendynamiker*innen Teams als Hybrid zwischen Team und Gruppe verstehen.

Der Versuch, differenzierungstheoretisch Gruppen und Teams kategorial zu unterscheiden, unterläuft genau diese Dialektik und greift als Beschreibung dessen, was man in gruppendynamischen Kontexten lernen kann, ins Leere. Stattdessen kommt Kühl zu dem Schluss, dass sich in gruppendynamischen Laboratorien nichts Relevantes für das Handeln in Organisationen lernen lassen, man könne nur etwas lernen über das Handeln in „Freundeskreisen, Jugendcliquen oder Straßengangs“ (2024, S. 16)

Von Hegel stammt die erkenntnisstrategisch so bezwingende wie forschungspraktisch so schwierige Empfehlung, dass man sich bei der Kritik immer im „Bannkreis der Stärke“ des Gegners bewegen solle. Kühl orientiert sich in seinen Überlegungen eher wenig daran, stattdessen gibt er der Versuchung nach, aus der gruppendynamischen Literatur jene Passagen heranzuziehen, die ihm bei der Entwicklung seiner Gedanken zuarbeiten. Sonst hätte er wahrnehmen müssen, dass die von ihm beschriebenen Strukturkonflikte zwischen Person und Rollen und den damit gegebenen spezifischen Erwartungen, die sich in gruppendynamischen Laboratorien immer zeigen, schon immer Gegenstand gruppendynamischer Reflexion sind.

Die einschlägigen Versuche soziologisch oder sozialpsychologisch aufgeklärter Gruppendynamiker*innen, ihre Praxis auf den Begriff zu bringen, tauchen in seinen Arbeiten kaum auf. Auch in der Beschreibung der Interventionen und Methoden, die in gruppendynamischen Trainings stattfinden sollen, bezieht er sich größtenteils auf Beschreibungen, die eher aus dem gruppendynamischen Gruselkabinett stammen als aus der lebendigen kollektiven Forschungspraxis, die in T-Gruppen stattfindet oder stattfinden sollte. So schreibt er: „Mitglieder werden auf einen ´heißen Stuhl´ gesetzt und von allen anderen mit individuellen Eindrücken zu seiner Person konfrontiert. Die einzelnen Teilnehmer beschreiben sich gegenseitig mit Tierbildern, um so einen sinnbildhaften Eindruck vom jeweils anderen zu vermitteln. (…) Zudem werden ´Gruppenskulpturen´ gestellt, in denen über die Art der Körperhaltungen die Beziehungsgeflechte der Teilnehmer zueinander dargestellt werden“ (a.a.O., S. 32).

Abschließend sei an dieser Stelle Peter Sloterdijk zitiert, der in einem Essay über Luhmann (5) davon spricht, „dass Luhmannsche Lektionen in bezug auf sogenannte vitale oder existenzielle Angelegenheiten wenig direkten Gewinn abwerfen und für die Bedürfnisse des Lebens, das einem hinreichend guten Kollektiv angehören möchte, geradezu ruinöse Nebenfolgen zeitigen. Der libido d´appartenance (um einen Ausdruck von Michel Serres aufzunehmen) jedenfalls kommt das Denken mit Luhmann nicht zugute. (…) Es dürfte kaum eine Theorieform gegeben haben, die sich so explizit abhängig wußte vom schützenden Klima ihrer kulturellen Nische, in diesem Fall dem akademischen Reservat – und kaum eine, die mehr zu fürchten gehabt hätte von dem, was man in anderen Zusammenhängen den Einbruch des Realen nennt.“

Sloterdijk bringt hier zwei letztlich doch erstaunliche Phänomene auf den Punkt: Zum einen die Leidenschaftslosigkeit, mit der Systemtheoretiker*innen sich mit den existenziellen Fragen der Zugehörigkeit beschäftigen sowie die Tatsache, dass wir große Teile unserer sekundären Sozialisation in Gruppen verbringen und zweitens, dass differenztheoretische Versuche kaum weiterhelfen, den Wissensbestand zu erweitern – auch wenn dadurch erst manche offensichtliche Unvernünftigkeiten der Praxis deutlich werden können. Das einzige, das hier weiterhilft, ist materiale Soziologie, Begriffsbildungen auf der Basis von materialen Studien, wie sie Kühl überzeugend z.B. in seinem Buch über die Konzentrationslager als „normale“ Organisationen vorgelegt hat (6). Um solcherlei im Feld der Gruppendynamik leisten zu können, fehlt ihm vermutlich der unvoreingenommene Blick und der Zugang zu authentischen Protokollen der gruppendynamischen Praxis. Letzteres ließe sich leicht nachholen.

5. Theorie der Gruppe und neue Gemeinschaftsrhetorik – normative Theorie oder historische Rekonstruktion

Als Soziologe ist Stefan Kühl auf zwei Bühnen unterwegs. Einmal spricht er zu den Fachkolleg*innen. Ob und wieweit er dort vernommen wird, vermag ich nicht zu beurteilen. Zum anderen spricht er zum Kreis der Berater*innen, zu dem er – quasi nebenberuflich – selber gehört, und hier wiederum vor allem zu den systemisch Orientierten – und den Gruppendynamiker*innen. Seine zahlreichen Einlassungen, die er öffentlichkeitsgeübt über mehrere Plattformen verbreitet, stellen für mich immer wieder eine erfrischende Gegenbrise zu den Nachrichten aus dem Paradies dar, wie sie in der Beratungsszene gerne erklingen.

Kühl hat nun in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Aufwand betrieben, um das soziale System Gruppe wieder in die theoretische Aufmerksamkeit der Systemtheorie zu holen und damit ggf. auch in die der Soziologie insgesamt, in der Gruppe seit geraumer Zeit nur noch ein Schattendasein führt. Erstaunlicher Weise führt dieser ganze Aufwand dazu, Gruppe nur noch realisiert zu sehen in Formen von vergleichsweiser geringer Relevanz, sowohl in ihrer sozialen wie ihrer gesellschaftstheoretischen Bedeutung, wie der Freundesgruppe und der Clique. Die meisten anderen sozialen Formen, die in der Vergangenheit als Gruppe thematisiert wurden, insbesondere das Team, werden von ihm dem Systemtyp Organisation zugeordnet.

Zuletzt hat er sich in seinen Beiträgen immer wieder mit dem auffälligen Comeback der Kategorie Gemeinschaft beschäftigt, insbesondere in der Arbeitswelt. Dabei werden ehemals dem privaten und familiären Bereich zugeordnete Verhaltensweisen und Wertewelten für die Berufswelt von Organisationen geöffnet und dort für fremdbestimmte Zwecke funktionalisiert (7). Dabei wird ihm sicherlich aufgefallen sein, dass damit etwas in die Organisationswelt einzieht, was konzeptionell zentrale Überschneidungen mit dem Systemtyp Gruppe aufweist, wenn auch in einer stark ideologisierten Form. Ideologisch insofern, als dass Gemeinschaft hier nur wenig kaschiert dazu dient, Organisationszwecke und -ziele moralisch aufzuladen. „Purpose“ und „New Work“ sind derzeit die populären Semantiken, in und mit denen dies beispielhaft geschieht.

Sachlich könnte man nun durchaus aufzeigen, wie der Sozialtyp Gruppe in der Organisationswelt tatsächlich als Gemeinschaft neue Popularität erfährt. Für ein Verständnis gerade dieser Entwicklung ist das differenzierungstheoretische Abgrenzungsdenken Kühls allerdings wenig hilfreich. Erkenntnisreicher ist hingegen eine Konzeption von Gruppe als hybridem Systemtyp, wie ihn ursprünglich Friedhelm Neidhardt formuliert hat, angesiedelt zwischen Organisation und Familie (8). Damit lassen sich viele soziale Formationen aus Kultur, Politik, Sport, usw. – und eben auch der Arbeitswelt gut beschreiben. Teams in Organisationen können sichtbar werden in ihrem Balanceakt zwischen personenbezogenen und rollenbezogenen Erwartungen und Zielen, als Diener verschiedener Logiken.

In Rechnung stellen sollte man allerdings, dass dieser theoretisch flexiblere Umgang mit Gruppe nicht genügend davor gefeit ist, genau für die angesprochenen ideologischen Zwecke von Organisationen in den Dienst genommen zu werden. In der Beratungsliteratur lässt sich immer wieder das Phänomen studieren, wie kritisch intendierte Einlassungen der Sozialwissenschaften zu neuen Legitimationsfiguren umgedeutet werden. Hier hat Kühls Abgrenzung der Systemtypen eine wichtige Funktion, allerdings mit dem Preis, dass sich soziale Wirklichkeiten meines Erachtens nur ungenügend abbilden lassen. Vielmehr stellt sich der Eindruck her, dass sich die Wirklichkeit vor der Theorie bewähren muss und nicht umgekehrt.

In seiner jetzigen Formulierung stellt Kühl mit dem Systemtyp Gruppe nicht nur eine theoretische Orientierung zur Verfügung, sondern auch eine normative Setzung, an der soziale Realitäten gemessen werden – und dabei auch durchfallen können. Mit dem Urteil „nicht versetzungsfähig“ bzw. „durchgefallen“ werden insbesondere diejenigen belegt, die den Begriff Gruppe in ihre professionelle Identitätsbeschreibung aufgenommen haben, die Gruppendynamiker*innen. Dass diese ihre Beratungskompetenz nicht unbedingt auf Freundeskreise und Cliquen begrenzt sehen wollen, liegt auf der Hand.

6. Anerkennungsprobleme und Gegenübertragungs-Blindheit

Hier kommt eine Blindheit Kühls ins Spiel, die er mit einigen der Soziolog*innen teilt, die sich mit den angewandten Psy-Wissenschaften beschäftigen. Dies lässt sich gerade an der Geschichte der Gruppendynamik gut aufzeigen. Denn von Anfang an, d.h. ca. ab den 1940 er Jahren, finden innerhalb der entstehenden Profession Auseinandersetzungen darüber statt, wie das Verhältnis von Person, Gruppe und Organisation zu denken ist, welche unterschiedlichen Arbeitsformen auf die jeweilige Ebene zielen, wo sie in Konflikt miteinander geraten und ggf. sich sogar ausschließen, und manche Frage mehr (9). In ihren Analysen neigen nun Soziolog*innen gerne dazu, sich aus diesem streitbaren Feld einige Positionen auszusuchen – gerne auch besonders exponierte und exotische – und sie zum Watschen-Mann aufzubauen. Sie merken dabei zumeist nicht, dass sie sich in eine laufende Auseinandersetzung einmischen und sich dabei auf eine Seite schlagen. Empirische Herangehensweisen sind demgegenüber eher selten zu finden, weshalb man über die Welt der Beratung leider nur wenig weiß, zumal diese über sich selbst keine ernsthaften Analysen vorlegt.

Neben der Empirie könnte auch eine stärker historisch angelegte Beschreibung ein wenig Abhilfe schaffen, sowohl des Systemtyps Gruppe wie der mit Gruppe befassten praktischen Verfahren und der Nutzung des Theorems der nicht-intendierten Folgen intentionalen Handelns (10). Beispielhaft genannt sei z.B. die Arbeit von Boltanski und Chiapello zum neuen Geist des Kapitalismus, hinter der eine aufgeklärte Beratertheorie eigentlich nicht zurückgehen kann, was aber noch nicht einmal in Ansätzen geschieht (11).

Um etwas über die Hintergründe für die affektive Aufladung zu erfahren, mit der die Auseinandersetzungen zwischen Kühl und Gruppendynamiker*innen verbunden sind, ist es angebracht, beide Seiten in den Blick nehmen. Bei letzteren ist zu vermuten, dass es zwar – bis auf einige Ausnahmen aus der schreibenden Zunft – nur wenig Verbindung zum sozialwissenschaftlichen Diskurs gibt, dieser aber nach wie vor gerne als relevante Referenzgröße und zentrale Legitimationsfigur dient. Wenn es bei der geringen Aufmerksamkeit, die die Gruppendynamik in den Sozialwissenschaften findet, dann jemanden wie Kühl gibt, der sich überhaupt damit beschäftigt, dann wird dies erst einmal dankbar aufgegriffen. Absehen lässt sich dies an den zahlreichen Einladungen von Kühl zu gruppendynamischen Tagungen. Wenn Kühl in seinen Einlassungen und bei diesen Auftritten allerdings verkündet, dass Gruppendynamiker zu Organisationsfragen nichts Relevantes beizutragen hätten, dann erstaunt es nicht, dass dies auf wenig Gegenliebe stößt.

Was aber treibt Kühl an, dass er seit vielen Jahren und dies mit erheblichen theoretischen Arbeitsaufwand, diese Nichtzuständigkeit der Gruppendynamik in ständig neuen Aufgüssen wiederholt? Oder anders ausgedrückt: Wenn die Gruppendynamiker*innen gegenüber den Sozialwissenschaften, personifiziert durch Kühl, ein Anerkennungsproblem haben, welches Anerkennungsproblem hat Kühl gegenüber der Gruppendynamik und ihren Vertreter*innen? Wenn sie denn so irrelevant wären, wie von ihm behauptet, warum dann der ganze argumentative Aufwand?

Heinz Steinert (1942-2011), ein österreichischer Soziologe, der in Frankfurt lehrte, nutzte für die Beschreibung solcher Phänomene den Begriff der Gegenübertragungsblindheit (12). Aus der Psychoanalyse übernommen, bezeichnete er damit die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sozialwissenschaften bzw. mancher ihrer Vertreter, die Effekte mitzudenken, die durch die eigene Platzierung im Feld der zu untersuchenden Phänomene entstehen. Für die Gruppendynamik gilt dies übrigens gleichermaßen, versteht diese sich doch explizit als eine reflexive Praxis. Auch Steinert ging es um eine reflexive Soziologie, sowohl mit Blick auf ihre Theorie wie ihre empirischen Methoden. Soziale Wirklichkeiten lassen sich nicht einfach empirisch abschöpfen, sondern es gilt die Effekte zu berücksichtigen, die bei der Anwendung ihrer Methoden und Theorien auftreten, geraten sie doch sonst in die Gefahr, bestimmte soziale Effekte zu reproduzieren anstatt sie zu analysieren.

Bei Kühl, einem ausgewiesenen Vertreter der Systemtheorie, erstaunt nun, wie wenig Bedeutung er diesen Effekten beimisst. Und dies obwohl die Systemtheorie sich als Theorie des Beobachterstandpunktes versteht. Sie versucht allerdings, dies vorrangig formal zu bewältigen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Analyse von Gegenübertragungseffekten zielt nicht auf Psychologisierung, auch wenn das Mitdenken von psychologischen Effekten hilfreich wäre. Ohnehin ist die strikte Trennung von Psychologie und Soziologie ein Teil des Problems. Ich würde mir wünschen, dass Kühl im Hinblick auf die Gruppendynamik mit der gleichen Sorgfalt vorgeht, die er auch und gerade in seinen historischen Rekonstruktionen an den Tag legt. In diesen tritt er nicht als systemtheoretischer Zerberus auf, der den Zugang dazu bewacht, wer sich legitimer Weise zum Thema Organisation äußern darf, sondern er lässt sich vom historischen Material anleiten. Seine polemischen Pfeile lässt er dabei im Köcher. Seine Kritik an der Gruppendynamik, von der ich selber seit Jahren viele Punkte teile, würde dadurch eher gewinnen. Er mag selber wissen, worauf er mit seiner Kritik hinaus will. Mir erschließt sich das zunehmend weniger.

Anmerkungen:

(1) Vgl. z.B. König, Oliver, Schattenhofer, Karl (2022), Einführung in die Gruppendynamik, 11. Aufl., Heidelberg.
(2) Claessens, Dieter (1977), Gruppe und Gruppenverbände. Systematische Einführung in die Folgen von Vergesellschaftung, Darmstadt. Siehe auch: König, Oliver (2020), Macht in Gruppen. Gruppendynamische Prozesse und Interventionen, 6. Aufl., Stuttgart, S. 96ff.
(3) Parsons, Talcott (1975), Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems: Ein Bericht zur Person, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Soziologie – autobiographisch, Stuttgart, S. 1-68, hier S. 15.
(4) Siehe dazu Oevermann, Ulrich (1996), Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Combe; Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität, Frankfurt, S. 70-182.
(5) Sloterdijk, Peter (2001), Luhmann, Anwalt des Teufels, in: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt, S. 140.
(6) Kühl, Stefan (2014), Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin.
(7) Vgl. Oliver König (2023), Beschwörung des Imaginären. Zur Gemeinschafts- und Familienrhetorik im Beratungsdiskurs zu „New Work“, in: Familiendynamik, H. 2, S. 136-148.
(8) Neidhardt, Friedhelm (1979), Das innere System Sozialer Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 31, S. 639–660. Siehe auch: Ders. (Hrsg.)(1983), Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Zum Begriff Soziale Gruppe vgl. auch: https://www.socialnet.de/lexikon/Soziale-Gruppe
(9) Vgl. beispielhaft das Interview mit Bert Voigt, abrufbar unter: https://oliverkoenig-homepage.de/files/themes/oliverkoenig/pdf/Interview_Bert_Voigt_Schlussversion.pdf
(10) Robert K. Merton (1936), Die unvorhergesehenen Folgen zielgerichteter sozialer Handlung, in: Sternstunden der Soziologie. Wegweisende Theoriemodelle des soziologischen Denkens, Hg. Sighard Neckel, Ana Mijić, Christian von Scheve und Monica Titton. Frankfurt/New York: Campus, ]2010, S. 71–82.
(11) Boltanski, Luc, Chiapello, Ève (2003). Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: uvk (frz. Original Paris 1999), vgl. dazu Oliver König (2017), Der Psychoboom der 1970er Jahre und seine Folgen. Zur Entwicklung der Psy-Wissenschaften in der Perspektive der Geschichts- und Sozialwissenschaften, in: Familiendynamik, Heft 2, S. 146-156, bes. S. 141ff.
(12) Heinz Steinert (1998), Genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen. Rechthaberischer Realismus und Reflexive Dialektik. In: Ders. (Hrsg.): Zur Kritik der empirischen Sozialforschung. Ein Methodendiskurs. Frankfurt am Main: Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt am Main (Studientexte zur Sozialwissenschaft, 14) S. 67-79.

2 Kommentare

  1. Thomas Vogl sagt:

    Ich unterstütze die Anmerkungen von Andreas Amann, Oliver König und Karl Schattenhofer zu Stefan Kühls Buch „Organisationen im Labor: Grenzen der Simulation von Formalität in gruppendynamischen Trainings“. Das ist keine Überraschung bei einem gruppendynamischen Trainer. Ich will hier nichts wiederholen. Tatsächlich hat Kühls Verständnis von Gruppen auch Konsequenzen für die Organisationsentwicklung. Es ist mir wichtig, das einmal aus gruppendynamischer Perspektive zu beleuchten, weil an dieser Stelle von systemischen Brater*innen Potential verschenkt wird.

    Stefan Kühls steile Einschätzung gruppendynamischer Trainings zeigt Parallelen in seiner Organisationssoziologie. Weil die gruppendynamischen Trainings keine formale Organisation simulieren können, vermutet er, dort würde eingeübt, was sich in „Freundesgruppen, in Liebesbeziehungen und Kleinfamilien“ (2024, 39) abspielt. Tatsächlich trainieren die Teilnehmenden die Interaktionskompetenzen, die Teamarbeit fruchtbar machen. Im Zuschnitt seiner Theorie gibt es für diesen Lernraum auf Beziehungsebene einfach keinen Platz.

    In der systemischen Organisations-Theorie zeigt sich diese Leerstelle deutlich auch in Kühls Buch „Schattenorganisation“ (2023). Er beschreibt am Beispiel holakratisch organisierter Unternehmen, wie diese von einem übergeordneten Unternehmenszweck und einer holakratischen Verfassung ausgehen und eine flexible, flach hierarchische Organisation formen. Aus diesen beiden Quellen speise sich dann eine detailverliebte Arbeit an Rollendefinitionen, die der Belegschaft transparent machen soll, wer welche Verantwortung und welche Befugnisse hat. Diese Transparenz werde noch gestärkt durch soziokratisch inspirierte, ineinander verschränkte Teilnehmer-Kreise, in denen gemeinsam Entscheidungen getroffen werden. Kühl beobachtet, dass die Holakratie so letztlich zu einer Hyperformalisierung der Organisation führt, die unbeabsichtigt eine neue Form der Bürokratie einführt (57ff). Das erkenne man beispielsweise an der Ausbildung von Rollen und Kreisen, die faktisch keine Wirksamkeit entfalten und so „Formalitätsruinen“ gleichen (59) sollen. Schließlich führe die Verregelung der Organisation bis in die Bereiche der Interaktionen hinein dazu, dass sich „Schattenstrukturen“ herausbilden als „informale Korrekturmechanismen“ (73). Kühls Hypothese ist, die Unzulänglichkeiten der formalen Organisation (Hyperfomalisierung) werden auf der Ebene der Organisationskultur (Schattenstrukturen) mehr schlecht als recht kompensiert. Denn was informal geregelt wurde, bleibe der formalen Kontrolle und rationalen Gestaltbarkeit entzogen. Habe sich die formale Erwartungsbildung über Rollen und Kreise als zu sperrig und unzuverlässig herausgestellt, springe die informale Erwartungsbildung ein. Man fragt sich dann nicht mehr, wer ist wofür zuständig? Sondern: Wer kann mir wirklich weiterhelfen, ganz unabhängig von irgendwelchen ausformulierten Rollen.
    Dass es klug ist, in der Arbeit zweckmäßige Arbeitsbeziehungen zu pflegen, ist bereits 1927 bis 1932 in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company gruppendynamisch erforscht worden und keine Überraschung (vgl. Hohmans, 1972, 72-99). Überraschend ist eher, dass diese informale Plastizität der Organisation von Kühl als Schatten-Organisation diskreditiert wird. Als ob eine Organisationskultur allein deshalb als organisationsfremd betrachtet werden muss, weil sie vielleicht die Schwächen der intendierten formalen Struktur sichtbar macht, dabei aber auch ausgleicht und die formale Organisation auf eine gesunde Beziehungsbasis stellt. Diese eigenwillige Bewertung als „Schatten-Organisation“ erklärt sich aus Kühls klassifikatorisch eng geführten Begriffen der Organisationskultur und der Gruppe.

    In seinem Büchlein „Organisationskulturen beeinflussen“ (2018) bestimmt Kühl die Organisationskultur so: „Unter »Organisationskultur« versteht man all jene Verhaltenserwartungen, die nicht über Entscheidungen festgelegt wurden, sondern die sich langsam eingeschlichen haben.“ (9) Was Kühl nicht sieht, ist: Diese Konventionen oder informalen Normen und Rollen werden in Gruppen von Menschen ins Werk gesetzt und durchgesetzt. Sie werden interaktiv in Beziehungen gewonnen und sind damit im Kontakt durchaus gestaltbar. Informale Erwartungsbildung ist ein sozialer Prozess, der in Gruppen zuhause ist. Dass sich Organisationen überhaupt mit diesen nicht vollständig rationalisierbaren kulturellen Phänomenen abfinden müssen, liegt seiner Ansicht nach an der Irrationalität der Umwelt der Organisation: „Da Organisationen auf widersprüchliche Anforderungen reagieren müssen, aber gleichzeitig darauf achten müssen, dass die Mitglieder mit einer konsistenten und deswegen weitgehend widerspruchsfreien formalen Struktur konfrontiert werden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Informalität, ja teilweise sogar Illegalität zu tolerieren oder sogar zu fördern“ (14). Trotzdem empfiehlt er am Ende den Führungskräften unter seinen Leser*innen: „Der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, sind Veränderungen der Formalstruktur“ (43). Einen gestaltenden Zugang zur Organisationskultur kann es aus seiner Sicht nicht geben. Für ihn steht die informale Organisationskultur stets der „eigentlichen“ formalen Organisation so fremd gegenüber wie die Gruppe dem Team, wie wir gleich sehen werden. Dass die Organisationskultur von Gruppen geprägt und getragen wird, ist unter Gruppendynamiker*innen breit akzeptiert. Bei Kühl scheint das nur schwach auf, wenn er über standardisierte Fragebögen zur Organisationskultur schreibt. Da werden Fragen genannt wie „Was muss man hier tun, um einen guten Stand bei den Kollegen zu haben“ (45)? „Was muss man hier tun, um sich unmöglich zu machen oder sogar ›rauszufliegen‹“ (46)? Diese Fragen zu informalen Normen adressieren die Gruppenebene. „Was muss man hier v o r w e m tun…?“ Kühl kann diese offensichtlich gruppenbezogenen Aspekte theoretisch deshalb nicht einholen, weil er einen engen, klassifikatorischen Gruppenbegriff vertritt. Er stellt dar, wie der Gruppenbegriff in der Soziologie seiner geringen Trennschärfe wegen wissenschaftshistorisch über Jahrzehnte an Bedeutung verlor und resümiert dann: „Am erfolgversprechendsten scheint der Versuch zu sein, den Gruppenbegriff über die personale Orientierung in der Kommunikation ihrer Mitgliedern zu spezifizieren.“ (2021a, 10, Fehler im Original) Was kann dann noch als Gruppe bezeichnet werden? Kühl meint: „Freundeskreise können dabei als Idealtypus genannt werden, in dem personenbezogene Kommunikation nicht nur gelegentlich vorkommt, sondern in dem sich das System über erwartete personenbezogene Kommunikation reproduziert. Aus dieser Perspektive sind Organisationen lediglich eine von vielen Möglichkeiten, in denen sich aufgrund räumlicher Nähe und regelmäßigem Wiedersehen solche auf personenbezogene Kommunikation basierende Systeme ausbilden können.“ (2021b, 4) Teams müssten demnach eine Art Freundschaft schließen, um auch als Gruppe durchzugehen.

    Es wird aktuell auch in Frage gestellt, ob Teams überhaupt Gruppen sein können. Geramanis verneint das in „Teams sind keine Gruppen“ (Geramanis 2022) wie auch Kühl in „Die folgenreiche Verwechslung von Teams, Cliquen und Gruppen“ (Kühl 2021a). Geramanis würde gleichwohl situativ untersuchen, ob gruppenhafte Zusammenhänge im Team vielleicht doch eine Rolle spielen (Geramanis, 15). Es stellt sich die Frage, ob diese Alternative alternativlos ist. Wimmer plädierte bereits 2007 für eine Neufassung des Gruppenbegriffes als „Bezeichnung einer eigenen Systembildungsform, die weder mit dem Beschreibungsrepertoire der Interaktion noch mit dem der Organisation theoretisch angemessen erfasst werden kann“ (Wimmer 2007, 287). In einer späteren Arbeit beschreibt er Gruppen und Teams als emergenten eigenen Systemtypus, in dem Sach- und Sozialdimension von gleicher Relevanz sind. „Diese Gleichgewichtigkeit zeigt sich darin, dass die strukturelle Kopplung mit den beteiligten Personen wie mit der Organisation, in der sich solche Gruppen und Teams ausdifferenzieren, in gleicher Weise für die gruppeninterne Strukturbildung genutzt wird“ (2022, 580). Das heißt, Organisationen, die Teams einrichten, handeln sich damit immer auch Gruppen ein. Darin steckt eine Wahrheit, die Kühl verborgen bleiben muss.

    Gruppen sollen sich wesentlich durch personenbezogene Kommunikation auszeichnen. Teams durch rollenbezogene. „Etwas persönlich zu nehmen“ steht nicht hoch im Kurs in den meisten Organisationen. „Nimm es nicht persönlich, aber Du wirst hier keine Teamleitung werden.“ Die Führungskraft unterscheidet im Feedback dann vielleicht noch fein zwischen der Rolle, die sie nicht gewährt und dem vorbehaltlos akzeptierten Menschen dahinter. Das nutzt dem Betreffenden nur nichts, wenn die Kritik etwas einschließt, was er will. Zum Beispiel Teamleitung werden, mehr Status, Geld und Einfluss gewinnen. Es wird zwangsläufig die Arbeitsbeziehung zwischen Chefin und Nicht-Teamleitung beeinflussen, dass sie ihn gebremst hat. Erfahren andere vom Ausgang der Sache, gehen die Wirkungen weiter. Lediglich in Teams, in denen niemand etwas will, kann man von der Gruppendynamik vollständig absehen. Von allem anderen dann wohl auch. Die Frage kann deshalb nicht sein, ob man es sich wünscht, dass Gruppendynamik die Arbeitsbeziehungen würzt. Interessanter ist die Frage: Wie schmeckt ein Team seine Arbeitsbeziehungen so ab, dass es sowohl der Organisation als auch den Teammitgliedern gut genug schmeckt?
    Wo Menschen ihre Verhaltenserwartungen aufeinander abstimmen, geht es um Politik und Einfluss. In Teams ist vielleicht nicht das Private politisch, aber das Persönliche. Auf diesem emotionalen Spielfeld der Normen tummeln sich Gruppen und auch Teams ständig. Wenn man „Team“ und „Gruppe“ um der klassifikatorischen Begriffsklarheit wegen strikt trennt, kann man sehr geläufige, einfache Phänomene theoretisch nicht mehr angemessen fassen. Beispielsweise bekommen manche Teammitglieder in Teams kein Gehör, weil ihr Beziehungsstil nicht anerkannt wird: zu autoritär, zu unsicher, zu selbstbezogen… Zu jeder Rolle gehört eine Persönlichkeit, die sie ausfüllt. Streicht man diesen persönlichen Anteil in den Arbeitsbeziehungen, werden viele mikropolitischen Ereignisse im Team unerklärlich. Ein anderes Beispiel wäre ein Teamleiter, der seiner Positionsmacht zum Trotz seinem Team ohnmächtig gegenübersteht, weil seine Teammitglieder ihm einfach nicht folgen. Verweigern die Teammitglieder dem Chef die Autorität, bleiben ihm am Ende nur Sanktionen, um sich durchzusetzen. Das geht voraussichtlich nicht lange gut. Der unglückliche Chef hat zwar seine formale Rolle, aber keine Autoritätsbeziehungen, die ihm im Kontakt mit seinen Leuten den Einfluss geben, den er braucht. Sein Versuch, das Team zu leiten, scheitert an der Gruppendynamik. Für Projektteams haben Heintel und Krainz beschrieben, „Autorität […] ist jeder, der für die Gruppe wichtige Funktionen zeitgerecht wahrnimmt“ (2011, 106). Formale, hierarchische Rollen monopolisieren diese Funktionen und können so unter Umständen die freie Entfaltung der Kräfte eher behindern als unterstützen. Die „Amtsautorität“ müsse hier klugerweise langsam zurücktreten und das Team ermuntern, „in wechselnden Autoritätsverhältnissen vorzugehen“ (ebd.). So eine Beziehungs-Dynamik lässt sich allerdings nicht einmal ansatzweise formalisieren. Autorität ist etwas sehr Persönliches. Auf Personen bezogene Erwartungen sollen laut Kühl aber per definitionem den Teams unwesentlich sein. Letztlich modelliert seine Theorie Teams, ohne ihr spezifisches soziales Leben zu erfassen, das gruppale und organisationale Anteile spannungsvoll vereint.

    Wer mehr über den Nutzen gruppendynamischer Beobachtungen in Teams erfahren möchte: förderliche Gruppendynamik in reifen Teams habe ich hier dargestellt -> https://rdcu.be/dXV5R

    Literatur

    Geramanis, O. (2022). Teams sind keine Gruppen. Gruppendynamik – der „blinde Fleck“ der Agilität, In K. Geissler, W. Looss (Hrsg.), Personal Entwickeln, 279. Erg.-Lfg., Fachverlag Deutscher Wirtschaftsdienst.

    Heintel, P., Krainz, E. (2011), Projektmanagement. Hierarchiekrise. Systemabwehr. Komplexitätsbewältigung, Wiesbaden: Springer Gabler Verlag

    Hohmans, G. (1972), Theorie der sozialen Gruppe. Westdeutscher Verlag, Opladen.

    Kühl, S. (2021a). Die folgenreiche Verwechslung von Teams, Cliquen und Gruppen. Gruppe. Interaktion. Organisation 52, 417–434.

    Kühl, S. (2021b). Soziologie der Gruppen. Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer theoretischen und empirischen Gruppenforschung. SOZIOLOGIE 50. JG., Heft 1, 26–47.

    Kühl, S. (2018). Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Springer Fachmedien, Wiesbaden.

    Kühl, S. (2023). Schattenorganisation. Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung. Campus Verlag, Frankfurt.

    Kühl, S. (2024). Organisationen im Labor? Grenzen der Simulation von Formalität in gruppendynamischen Trainings. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

    Wimmer, R. (2007). Die Gruppe – ein eigenständiger Grundtypus sozialer Systembildung? Ein Plädoyer für die Wiederaufnahme einer alten Kontroverse. In Aderhold, J., Kranz, O. (Hrsg.) Intention und Funktion. (270-289) VS Verlag für Sozialwissenschaften,

  2. Stefan Busse sagt:

    Stefan Busse

    Kommentar zu den Anmerkungen von Andreas Amann, Oliver König, Karl Schattenhofer zum dem Beitrag von Stefan Kühl: „Organisationen im Labor. Grenzen der Simulation von Formalität in gruppendynamischen Trainings“

    Die durch die Autoren eröffnete Diskussion (Kontroverse) zu den Ausführungen von Stefan Kühl über die Ungeeignetheit bzw. Begrenztheit gruppendynamischer Training für die Vermittlung organisationsbezogener Kompetenz ist m.E. zu begrüßen – nicht nur weil Stefan Kühl seine Argumention an unterschiedlichen Orten bereits weit entfaltet hati, sondern auch weil die Differenzen zwischen Team und Gruppe, zwischen Organisations- und Gruppendynamik, zwischen Team- und Gruppenhandeln theoretisch wie praktisch immer noch bzw. immer wieder klärungsbedürftig sind. Der Text greift eine wichtige Frage des Selbstverständnisses gruppendynamischer Trainings (gT), mithin der Gruppendynamik als sozialwissenschaftlichem wie agogischem Zugang zu Phänomenen sozialer Interaktion in (Klein-) Gruppen auf – nämlich die nach dem realen Gegenstandsbezug der theoretischen wie diagnostischen Aussagen der „Gruppendynamik“ (worüber ist sie auskunftsfähig?) und der interventiven Reichweite gruppendynamischer Verfahren (worauf bezogen sind diese wirksam?). Das ist eine zentrale Frage, die die Gruppendynamik seit jeher umtreibt. Dabei scheinen sich Stefan Kühl und die kommentierenden Autoren im Prinzip darin einig, dass die Geschichte der Gruppendynamik auch als eine `leidvolle´ Geschichte der Selbstüberschätzung, enttäuschter Erwartungen nach Resonanz und begrenzter professioneller Wirksamkeit gelesen werden kann. Man findet auch Gruppendynamiker:innen, die Organisationsfragen gegenüber naiv sind und deren Sicht auf Organisationen von einer Deformation professionelle getrübt ist. Deshalb macht es allenthalben Sinn, den Stellenwert der Gruppendynamik im Allgemeinen und den von gruppendynamischen Trainings im Besonderen kritisch zu eruieren.
    Ich stimme der Kritik der Autoren an den Positionen Stefan Kühls im Wesentlichen zu, möchte meine Argumentation aber etwas anders lagern und auch auf einige mir problematisch erscheinende Entgegnungen der Autoren eingehen. Ich orientiere meine Argumentationen an den unterschiedliche Facetten der Kühlschen Kritik an der Gruppendynamik, die in der Diskussion unterschieden werden sollten.

    1. Das in gruppendynamischen Trainings (gT) Gelernte geht an den Erfordernissen von Organisationen vorbei, weil sie die Systemdifferenz zwischen Organisation und Gruppe nicht kennen.

    Zunächst wäre zu zeigen und zu belegen, dass die Gruppendynamik die entscheidende Systemdifferenz zwischen Organisation und Gruppe ignoriert bzw. nicht kennt, da sie den Unterschied zwischen formalen organisationalen Rollenanforderungen (-erwartungen) und gruppendynamisch beobachtbaren informellen Rollenbildungen unterschlagen. Folglich könnten gT keine Organisationswirklichkeit simulieren, weil sie nur auf die Sensibilisierung „personenbezogener Erwartungsbildung“ und die Herausbildung entsprechender Kompetenzen, mit diesen umzugehen, qualifizieren. Damit qualifizieren sie an den Organisationswirklichkeit vorbei. Unterstellt man, dass auch Gruppendynamiker:innen den Unterschied der ad-hoc Realität in Trainings und der in Organisationen kennen, wie die Argumentation von Oliver König et. al. und auch neuere Veröffentlichungen zeigenii dann entspricht der Kühlsche Vorwurf der Unterstellung, Gruppendynamiker:innen würde von der Belegung eines Tanzkurses auf das Führen einer (guten) Ehe schließen, weil ihnen die Systemdifferenz zwischen Tanz und Ehe nicht klar ist. Wenngleich beim Tanzen womöglich schon Wichtiges verhandelt (auch simuliert) wird: „Wer führt?“, „Wer nimmt Rücksicht?“, „Wie gelingt die Passung reziproker Schrittfolgen im (alltäglichen) Tanz (und Leben)?“. Vielleicht gibt es auch Ehen, die nur deswegen überleben, weil die Eheleute gute Tanzpartner sind…(?)
    Die Kritik an der Gruppendynamik läuft an diesem Punkt also darauf hinaus, dass sie das Falsche für das Richtige hält, also im Glauben befangen ist, sie trainiere sachbezogenes organisationales Handeln, welches sich aus der Primäraufgabe von Organisationen ableitet. Dass die Gruppendynamik in ihrer Geschichte nicht ganz von diesem Irrtum gefeit war, räumen die Kommentatoren des Beitrages und Gruppendynamiker:innen an anderer Stelle auch an einiii. Unberührt davon ist jedoch die Frage, ob gT dennoch etwas für Organisationen Verwertbares trainieren also organisationale Wirklichkeit nicht in ihrer Gänze verfehlen.

    2. Das in gruppendynamischen Trainings Gelernte ist nicht in die Organisationswirklichkeit transferierbar.

    Das Argument der Nichtsimulierbarkeit verweist auch auf die wohl in allen päd-agogischen Formaten (Unterricht, Training, Beratung, auch Psychotherapie etc. …) bestehende Frage, ob und wie die gewonnenen (hier: gruppendynamischen) Einsichten in die Praxis (der Organisationswirklichkeit) transferiert werden können. Das gilt im Übrigen auch für organisationssoziologische Weiter- und Fortbildungen. Beim Transfer des in Lehr-Lernsettings Gelernten gilt es immer die systemeigenen Artefakte zu bedenken und von ihnen zu abstrahieren, die hier notwendig waren, um bestimmte personenbezogene Veränderungen überhaupt erst zu ermöglichen. – So muss man im Training oder auch in der Psychotherapie (möglichst authentisch) offenbaren, was einem durch den Kopf geht oder emotional bewegt, weil sonst eine bestimmte Form des Lernens nicht möglich ist oder man sollte im Unterricht im richtigen Moment die richtige Antworten geben und sein Wissen demonstrieren, damit es sicht- und überprüfbar wird. Das ist die Übung: „In der Trainingsgruppe wird vieles auf den Kopf gestellt“ (König et al. ebd, S. 3), steht so didaktisch gewollt wirklich auf dem Kopf. Aber man lernt ja nicht für die Schule sondern für das Leben. Die „unreflektierte“ Übertragung systemspezifisch gewonnener Einsichten (personenbezogener Veränderungen) und der alltagsfernen Kommunikationsformen, die das erst ermöglicht haben, auf das Handeln in anderen Systemen (Organisationen), kann durchaus problematisch werden. Sie sind nicht unmittelbar anschlussfähig oder kollidieren mit der etablierten Kultur der Referenzsysteme.
    Das gilt aber für arbeitsweltliche wie lebensweltliche Referenzsysteme, für reale Organisationen und Alltagsgruppen gleichermaßen.
    Ein gruppendynamisch trainierter Familienvater mag nach der Rückkehr in seine Familie mit seiner nunmehr mühsam erarbeiteten Bereitschaft zur Selbstoffenbarung nicht nur die an ihn gerichteten „Personenerwartungen“ irritieren, sondern die Kommunikations- und Interaktionspraktiken seiner Familie zunächst torpedieren und auch die „Rollenerwartungen“ an ihn als „Vater“ unterlaufen. Dies gilt erst recht für eine gruppendynamisch sensibilisierte Führungskraft; sie mag sich klarer geworden sein, dass ihre Zögerlichkeit und Scheu, in Mitarbeitergesprächen auch offen kritische Dinge anzusprechen und unliebsame Beschlüsse des Managements durchzusetzen, wie es ja das organisationale Rollenskript (Erwartungshaltung) vorsieht (!), mit seinem biografisch erworbenen Skript des „guten Jungen“ zu tun hat. Die Dinge immer hintenherum zu verhandeln, und wenn es eng wird, seine latenten Aggressionen auf unangemessene Weise zu agieren, ist ihm von der Gruppe im gT ziemlich unverblümt gespiegelt worden. Die eigentliche Aufgabe der Verhaltensanpassung (des Transfers) an etablierte Personenerwartungen einerseits und die Neukalibrierung mit den organisationalen Rollenerwartungen andererseits muss aber erst erbracht werden und das geschieht immer außerhalb (!) des gT und muss von allen Beteiligten vollzogen werden. Das Bild einer bloßen Übertragung simplifiziert diesen Vorgang auf das Gröbste.
    Selbst wenn man die allenthalben aufkommenden Klagen von Mitarbeitenden in Organisationen über die katastrophalen Kommunikations- und Führungskultur als überbordende Fehlerwartungen an die Adressierung von „personenbezogene Erwartungen“ attribuiert, sind sie doch immer Ausdruck einer schlechten oder nicht verhandelten Balance von rollen- und personenbezogenen Erwartungen im Dienst der Realisierung der Primäraufgabe einer Organisation. Eine solche „Verhandlung“ kann freilich nicht im gruppendynamischen Training stattfinden; das würde dieses überfordern. Deswegen muss man es ihm auch nicht vorwerfen. Es kann allenfalls für solche Fragen sensibilisieren. Zur Herausbildung eines notwendigen Organisationsbewusstseins bei allen Organisationsmitgliedern braucht es jedoch auch anderer Formate, wie Supervision, Coaching, Teamentwicklung, Konfliktmoderation oder allgemein so etwas wie Sozio-Education – vor allem aber ist es eine Führungsaufgabe.

    3. Gruppendynamische Phänomene als dysfunktionale Seite von Organisationen

    Das Gelernte geht an der Organisationswirklichkeit vorbei und ist, wenn überhaupt, nur im Rahmen von „Freundescliquen, Pokerrunden oder Wohngemeinschaften“ verwertbar, weil Organisatoren und damit auch Teams einen anderen Sozialtyp als Gruppen darstellen. Letzteres ist unbestreitbar, wirft also konsequenterweise die Frage auf, inwieweit gruppendynamische Phänomene in Organisationen überhaupt eine Rolle spielen, unabhängig davon, ob sie in einem Training bearbeitet werden.
    Dass sie dort anzutreffen sind, leugnet auch Stefan Kühl nicht. Das zentrale organisationssoziologische Argument, dass Organisationen vor allem und zuvörderst ihre Eigenlogik aus der Primäraufgabe der Organisation beziehen und die notwendigen Handlungen und kommunikativen Leistungen der Organisationsmitglieder damit vor allem den „Rollenerwartungen“ und nicht „Personenerwartungen“ folgen (müssen), wird jedoch mit einer Kleinrechnung der personenbezogener Erwartungen kurzgeschlossen. Personenbezogene Erwartungen und deren kommunikative Berücksichtigung werden als eine Art ökologisches Überbleibsel aus den Untiefen der Lebenswelt oder als biografisch erworbene Schatten verstanden, die sich in den informellen Beziehungen einer Organisation residual einnisten und das Rollenverhalten affektiv durchsetzen. Bestenfalls kann dies kreativ und zur Überbrückung formeller Kommunikationslücken oder zur Durchsetzung mikropolitischer Agenden genutzt werden; eigentlich sind sie aber entbehrlich oder nur „nice to have“: Wer hat nicht mal gerne Freunde unter seinen Kolleg:innen? Schlechtestenfalls sind sie aber störend und dysfunktional, weil sie die rationalen Anläufe in der Organisation stören, irritieren und ausbremsen.
    Erstaunlicherweise schlagen die Kommentatoren des Kühltextes in verteidigender Absicht vor allem in diese Kerbe. Es sei die Stelle, die für Gruppendynamiker:innen interessant ist. Ihr Interesse sei auf die „affektgrundierten Dynamiken“ gerichtet, die das „zielorientierte Handeln erschweren, wie z.B. Konkurrenz, Rivalität, Subgruppenbildung, Außenseiterdynamiken)“ (ebd. S. 7). Und : „So lange Teams tun, was sie tun sollen, sind sie für die gruppendynamische Forschung wenig interessant. In dem Augenblick, wenn Teams das nicht mehr tun, weil affektreiche und regressive Kollektivkräfte das Feld des Teams überschwemmen, haben wir es – in unsere Terminologie – mit Gruppendynamik zu tun. Dann verwandelt sich ein Team in eine Gruppe mit den dazu gehörenden universellen Dynamiken.“ (ebd.) Es ist unbestritten, dass gruppendynamische Prozesse in der Regel erst dann auffallen, wenn sie dysfunktional werden, wenn Handlungsvollzüge gestört und blockiert werden – das heißt aber nicht, dass sie nur oder erst dann vorhanden sind. Das hieße, eine Schilddrüse (oder ein beliebiges anderes Organ) würde erst dann existieren, wenn seine Funktion gestört ist… Man wird in der Regel erst im Fall der dysfunktionalen und pathogenen Entgleisung auf die Wirkung normaler Prozesse aufmerksam. Die Psychoanalyse hat ihr Forschungsprogramm auf diese Einsicht gegründet – das Verstehen des „Normalen“ über die Rekonstruktion des Pathologischen und Dysfunktionalen.
    Mit dieser einseitig negativen Perspektive auf gruppendynamische Phänomene bekräftigen die Autoren unversehens die Position Kühls. Das verkennt m.E. die zentrale Herausforderung im arbeitsweltlichen bzw. organisationalen Handeln, nämlich rollen- und personenbezogene Erwartungen und Anforderungen, z.B. als interaktive Herstellung von Teams, immer zu relationiereniv. Das gilt nicht nur für jene Berufs-(Organisations-)Rollen in sozialen Dienstleistungsorganisationen (Klinik, Schule, Soziale Einrichtungen etc.), in denen ganz explizit ein „spezifischer“ und „diffuser Rollenanteil“ (i.S. Parsons) zur Realisierung eines Arbeitsbündnisses mit Klienten:innen in Balance gebracht werden muss. Es gilt generell in Einrechnung berufs- und organisationskultureller Besonderheiten für alle kollaborativen und kooperativen Arbeitsbeziehungen in Organisationen. So ist die Anforderung an die Beteiligten nicht allein, dass sie ihren Dienst an der Sache tun, sondern dass sie dies immer auch als Menschenarbeit tun – mit, an und für Personen, weil „Teams als Hybrid zwischen Team (eigentlich Organisation, S.B.) und Gruppe (zu) verstehen“ (ebd.) sind.

    4. Die mögliche Instrumentalisierung der Gruppe bzw. gruppendynamischer Phänomene als modernes Copy und Paste von Gemeinschaft in die moderne Arbeitswelt

    Dass die Gruppe als besondere Sozialform in der gegenwärtigen modernen Arbeitswelt wieder reüssiert und als Produktivitätsmoment wiederentdeckt und zugleich instrumentalisiert wird, darin sind sich Kühl und die Autoren einig. Das reicht von der Entdeckung von „Purpose“ im Kontext von „New Work“ über die „agilen Organisationen“ (oder organisierter Agilität) gebündelt im Konzept von „Holacracy“, in dem „Gemeinschaft“ nicht als nur Residuum archaischer Sozialform geduldet sondern nachgerade beschworen wird. Das entspricht oder entspräche einer Art Copy und Paste aus der Welt der sozialen Vergemeinschaftung in die Welt der organisierten Vergesellschaftung. Die Selbstregulation von Teams und die damit verbundene Grundierung in Gruppenprozessen als wichtigen Resilienzfaktor in einer VUKA-Welt zu sehen, knüpft jedoch auch an die Geschichte von „Human Relation-Bewegung“ in den 20er Jahren und dem Konzept der „Humanisierung der Arbeit“ der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts an. Diese hat sich in der Ambivalenz zwischen Verwertungsimperativ und emanzipatorischem Versprechen bewegt, was auch zu Überhöhungen und enttäuschten Erwartungen geführt hat. Es ist richtig, der neuerlichen Anrufung von Gemeinschaft (von vergemeinschafteter Subjektivität) in der Arbeitswelt ideologiekritische Distanz zu wahren.
    Nur verweist die Anrufung und Anrufbarkeit von Subjektivität und Gemeinschaft, bei aller Instrumentalisierung und Ideologisierung, zunächst einmal auf eine positivere Sicht gruppendynamischer Phänomene. In ihnen ist latent ein Bedarf nach befriedigenden und funktionierenden sozialen Beziehungen in und bei der Arbeit eingelassen. Das würde gute Arbeit im Rahmen von Organisationen nicht allein am Maßstab formaler sondern auch personenbezogener Rollenerwartungen bemessen. Arbeit im Rahmen von Organisationen gut machen, heißt auch dort gute Arbeit zu finden.v Das würde die Analyserichtung in der Spannung zwischen formalen Rollen- und personenbezogenen Erwartungen umkehren: Es wäre dann nicht nur davon auszugehen, dass Gruppendynamik stört oder allein personenbedingte Störungen anzeigt – Gruppendynamik könnte indessen auch als kritischer Indikator für die Angemessenheit formaler bzw. organisationaler Rollenerwartungen gelesen werden. Das ist nun wiederum eine vertraute Perspektive für Berater:innen, die wissen, dass sich in verqueren Sozialbeziehungen verquere Organisationsstrukturen bzw. Strukturkonflikte spiegeln und personalisiert werden. Was als bloße Gruppendynamik erscheint, weist über sie hinaus. Dass Stefan Kühl diese Analyserichtung nicht einnehmen will, mag sich aus seinen Positionen ableiten. Warum die Autoren des kritischen Kommentars dies als Gruppendynamiker unterschlagen, habe ich nicht verstanden.

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