Zum Veranstaltungsproblem von Verfahren

Wahlen, Untersuchungsausschüsse oder Gerichtsprozesse zählen zu selbstverständlichen Phänomenen moderner Demokratien. Bezeichnet sind damit besondere Interaktionen zwischen Menschen, nämlich „Verfahren“, in denen entschieden wird, wer Recht, Geld oder Macht bekommt. Vor Gericht geht es um normierende Entscheidungen über Einzelfälle, in Verwaltungen wird über Anträge entschieden und die politische Wahl ordnet Personen bestimmten Ämtern zu. Gemeinsam ist all diesen Verfahren, dass ihr Ausgang einerseits ungewiss, andererseits aber verbindlich ist: Trotz des Einsatzes von Big-Data-Analysen können wir uns nicht sicher sein, wie andere handeln. Verträge und Vertrauen gewährleisten lediglich, dass sich nicht ständig alles ändert und sich zumindest ein großer Teil der Gesellschaft erwartungsgemäß verhält.

Wie gehen wir aber mit der gleichzeitigen Unsicherheit und Verbindlichkeit von Verfahrensentscheidungen um? Interessanterweise fördert gerade diese Kombination die Beteiligung an Entscheidungsverfahren und die Akzeptanz ihres Ausgangs. Auf diesen Zusammenhang hat der Soziologe Niklas Luhmann vor rund 50 Jahren in seinem Band „Legitimation durch Verfahren“ hingewiesen. Darin definiert Luhmann Verfahren als besondere Interaktionssysteme, die auf Dauer eingerichtet sind und die Funktion erfüllen, eine verbindliche (Fall-)Entscheidung zu erarbeiten. Ihr Anfang und Ende werden im Verfahren selbst hervorgebracht und in besonderer Weise markiert.

Wie kommt es dazu, dass Verfahren und ihre Ergebnisse akzeptiert werden?

Klassische Demokratietheorien schreiben den kommunikativen Verständigungsidealen der Richtigkeit, Wahrheit und Öffentlichkeit eine wichtige Funktion zu. Der Soziologe Niklas Luhmann sieht in diesen Prinzipien eine nachgelagerte Rolle. Seine These ist, dass Betroffene ein Verfahren nicht aufgrund ihrer individuellen Einstellung zum Entscheidungsinhalt akzeptieren, sondern weil sie vorab den Bedingungen ihres Zustandekommens zugestimmt haben: Damit sich überhaupt Verfahren ausbilden können, müssen die Teilnehmer*innen bestimmte Verfahrensrollen einnehmen und Regeln folgen, die sich von ihren anderen gesellschaftlichen Situationen unterscheiden. Durch das Einlassen auf solche spezifischen (Fremd-)Erwartungen verstricken sich die Betroffenen im Verlauf des Verfahrens in eine Geschichte von Selbstbindungen, die ihre Verhaltensalternativen schrittweise auf eine Entscheidung zuschneiden. Verfahren generieren dabei dadurch Legitimation, dass die Verfahrensbedingungen in der Interaktion selbst stabil, potenziell jedoch änderbar sind. Mit anderen Worten: Die Legitimation von Verfahrensentscheidungen setzt eine Legitimation der Verfahrensstrukturen voraus. Dieses „Veranstalterproblem“ von Verfahren ist, so meine These, kaum systematisch behandelt worden.

Wie lassen sich die Stabilität und die Änderbarkeit von Verfahrensregeln in eine soziale Form bringen?

Zum Verständnis der Frage, wie Verfahren eingerichtet werden, ist die Einsicht instruktiv, dass Verfahren nicht in den Verfahrensrollen und -regeln aufgehen. Ein Verfahren ist keine kettenförmige Abfolge von Handlungen. Gerichtsverfahren beispielsweise setzen zwar rechtliche Normen voraus, aber die Geltung und Anwendung bestimmter Regelungen muss erst für den jeweiligen Fall qua Entscheidung qualifiziert werden. Wie aber werden Verfahren jenseits ihrer eigenen Rollen und Regeln strukturiert?

Mein Argument ist, dass Organisationen eine wesentliche Strukturleistung für Verfahren erfüllen: Als eigenlogische Ordnungsformen zeichnen sich Organisationen in Luhmanns Sprache dadurch aus, dass sich ihre Mitglieder auf die Einhaltung situationsübergreifender Verhaltenserwartungen verpflichten. Die Mitgliedschaft ist dabei kein gesellschaftlich erworbener Status, sondern bezeichnet eine zeitlich begrenzte Rolle mit bestimmten Pflichten. Die damit verbundenen Aufgaben und Regeln legen fest, welches Personal wann was und mit wem zu erledigen hat. Derartige Rollen- beziehungsweise Mitgliedschaftsverhältnisse sind heute allgegenwärtig, sei es in berufsmäßigen Arbeitsorganisationen (wie Behörden, Schulen, Unternehmen, Krankenhäusern) oder in vereinsartigen Interessensorganisationen. Die Besonderheit von Organisationen im Vergleich zu Familien, Gruppen oder Netzwerken besteht darin, dass die Mitgliedschaftserwartungen durch formale Entscheidungen als verbindlich gesetzt werden.

Zur organisationalen Verschachtelung von Verfahren

Für das Verständnis des Zusammenhangs von Organisationen und Verfahren ist zentral, dass Organisationen zwar den Rahmen für Verfahren festlegen. Die Verfahrensentscheidung selbst ist aber das Ergebnis eines Interaktionsprozesses, der seine eigene Dynamik entfaltet und in dessen Verlauf das organisatorisch Vorgeschriebene umgedeutet werden kann. Bei internationalen Gipfeltreffen zeigt sich beispielsweise nicht selten, dass am Ende einer langen Nacht zuvor vereinbarte Erwartungen plötzlich verworfen werden. Verfahren sind also doppelt strukturiert: Organisationen stellen als übergreifende Kontexte die Strukturen bereit (zum Beispiel Regeln, Personal, Hierarchien), die im Verfahrensgang als akzeptiert vorausgesetzt werden können, aber durch Organisationsentscheidungen potenziell änderbar sind. Thomas Scheffer beschreibt diese strukturelle Doppelbödigkeit als Trennung von fallbezogener und fallübergreifender Ordnung am Beispiel der Rechtsprechung: Während das Verfahren jeweils Aussagen mit Aussagen verknüpft, bietet der Gerichtsbetrieb fallübergreifende Standards. Es soll gerade nicht von Fall zu Fall eine neue Interaktionsordnung, eine neue Rollenverteilung oder eine neue Redeweise bestimmt werden.

Die doppelte Strukturierung von Verfahren erklärt auch, warum beispielsweise aktuelle Reformversuche, Verfahrensentscheidungen per Software zu automatisieren, an praktische Grenzen stoßen: Als Sozialkontexte mit je eigenen Beschränkungen lassen sich die Verhaltensweisen in Organisationen und Verfahren nicht standardmäßig abbilden. Versuche, den Entscheidungsverlauf von Verfahren durch binäre Parameter vorab zu modellieren, unterlaufen ihre Akzeptanzbedingungen. Dazu zählen insbesondere die besagte Offenheit ihres Ausgangs, die Lernfähigkeit der Beteiligten und das Eigenrecht einer Situation. Wenn es nun Organisationen sind, die das Recht in Gang setzen und fallförmig spezifizieren, dass Verfahren ihre Strukturen als legitimiert voraussetzen können, stellt sich weiterführend die Frage, wie genau Verfahren durch Organisationen veranstaltet werden. Sind überhaupt unorganisierte Verfahren möglich?

Legitimation von Entscheidungen zwischen Interaktion und Gesellschaft

Verfahren brauchen um ihrer Legitimation willen ein sie überdauerndes Rechts- und Organisationssystem. Das soziologische Erkenntnisproblem besteht nun darin, so meine Beobachtung, dass die jeweiligen Theoriestränge in der Verfahrens- und Organisationsforschung die historische Existenz ihres empirischen Gegenstandes a priori voraussetzen. Organisationen und Verfahren werden als evolutionäre Errungenschaften und Kennzeichen der Moderne verstanden. Ihre Entstehung wird im Wesentlichen auf die zweite Hälfte des 18. und 19. Jahrhunderts datiert. Zwei Entwicklungen werden dabei als komplementär verstanden: zum einen die gesellschaftliche Entstehung von funktionalen Großkontexten (zum Beispiel Politik, Recht, Wirtschaft, Massenmedien usw.), zum anderen die Ausbildung von kleineren sozialen Ordnungsformen wie Organisationen und Verfahren. Die eine Sozialform wird dabei zur Bedingung und zum Resultat der Ausdifferenzierung der anderen erklärt. Aussagen zur Entstehung von Organisationen und Verfahren sind vor diesem Hintergrund weitgehend als Zirkelschlüsse formuliert. Zu Organisationen heißt es tautologisch, dass diese erst mit der Ausbildung von Verwaltungen, Universitäten, Vereinen und Parteien entstanden seien, in denen die Mitglieder nicht mehr als ganze Person mit sämtlichen Rollen inkludiert waren. Für Verfahren wird ähnlich unklar postuliert, dass die eine Verfahrensart (zum Beispiel das Gerichtsverfahren) auf andere Verfahrensarten (der Gesetzgebung oder Verwaltung) angewiesen ist. Änderungen geltenden Rechts müssen sich auf politische Wahl- und Verwaltungsverfahren stützen können, an denen wiederum eine Vielzahl von Organisationen beteiligt sind. Als Recht gelten dabei wiederum nur solche Entscheidungen, die den Verfahrensprozess politischer Gesetzgebung durchlaufen.

Plädoyer für historische Perspektiven

Das reflexive Verhältnis von Organisation und Verfahren ist in der Soziologie bislang auf kein systematisches Interesse gestoßen und ebensowenig in seiner forschungspraktischen Unklarheit problematisiert worden. Auch wurde weder die Organisationssoziologie verfahrenstheoretisch fruchtbar gemacht, noch hat sich die Organisationsforschung genauer mit Verfahren als einer besonderen Ordnungsform beschäftigt. Fragen darüber, welche konkreten gesellschaftlichen Problemlagen zu bestimmten Zeitpunkten und in bestimmten Regionen hinreichend für die Genese von Verfahren und Organisationen waren, sind in der Konsequenz weitgehend unerforscht geblieben. Empirische Studien zur historischen Ausbildung und „Verschachtelung“ von Verfahren in Organisationskontexten können an dieser Stelle ansetzen. Sie legen nahe, dass sich Organisationen und Verfahren bereits in der vormodernen Gesellschaft ausgebildet haben und dass Verfahren außerhalb von Organisationen vermutlich unwahrscheinlich sind.

Aus einer historischen Perspektive wird zudem sichtbar, welche alternativen Strukturen für die (Re-)Aktivierung bindender Verfahrensprämissen genutzt wurden. Die Entwicklung schichtspezifischer Funktionsrollen und die symbolisch-rituelle Inszenierung von Konsens in der Interaktion unter Anwesenden weisen in diese Richtung. Der Vergleich mit historischen Formen der Verregelung von Entscheidungen kann sich hier als aufschlussreich erweisen. Um zu beschreiben, wie sich Verfahren und Organisation als eigenlogische Sozialkontexte ausbilden und wechselseitig bedingen, bieten sich neben der Genese von Gerichten und Parlamenten beispielsweise Spiele und Wettkämpfe an: Wie wurden Streitregeln festgelegt, und wie wurde sichergestellt, dass diese im Unterschied zu Ritualen außerhalb ihres Verlaufs fallübergreifend entscheidbar und damit legitimierbar sind? Unter welchen sozialen Voraussetzungen kam es zu einer Trennung von Spielinteraktion (Verfahren) und der übergreifenden Setzung von Spielregeln (Recht und Organisation)?

Der Blick auf historische Gegenstände in der Vormoderne eröffnet dabei Perspektiven für eine gesellschaftstheoretisch interessierte Verfahrens- und Organisationsforschung. Nicht einzelne Legitimationsaspekte von Verfahrensentscheidungen stehen hier im Zentrum, sondern die konkreten Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Entstehung und Einbettung.

Bild: Bauer h2, W. Vullhorst

Der Beitrag ist 2020 geringfügig verändert in der Märzausgabe der Zeitschrift „WZB-Mitteilungen“ erschienen:

Schwarting, Rena 2020. Stabile, aber entscheidbare Regeln. Wie Organisationen zur Legitimation von Verfahren beitragen. In: WZB-Mitteilungen Nr. 167. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), 30-32.

Literatur

Heintz, Bettina 2014: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit. Zur weltgesellschaftlichen Bedeutung globaler Interaktionssysteme, in: Bettina Heintz / Hartmann Tyrell (Hrsg.). Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen. Sonderband der Zeitschrift für Soziologie, 229-250.

Luhmann, Niklas 1983 [1969]: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a.M: Suhrkamp.

Scheffer, Thomas / Michaeler, Matthias / Schank, Jan 2008: Starke und schwache Verfahren: Zur unterschiedlichen Funktionsweise politischer Untersuchungen am Beispiel der englischen „Hutton Inquiry“ und des „CIA-Ausschusses“ der EU, in: Zeitschrift für Soziologie 37, 423-444.

Nassehi, Armin / Saake, Irmhild / Barth, Niklas 2019: Die Stärke schwacher Verfahren. Zur verfahrensförmigen Entdramatisierung von Perspektivendifferenzen im Kontext der Organspende, in: Zeitschrift für Soziologie 48 (3), 190-208.

Krischer, André 2014: Der ‚erlaubte Konflikt‘ im Gerichtsverfahren. Zur Ausdifferenzierung einer Interaktionsepisode in den englischen Hochverratsprozessen der Frühen Neuzeit, in: Bettina Heintz / Hartmann Tyrell (Hrsg.), Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited: Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen. Stuttgart: Lucius & Lucius, 201-255.

Schwarting, Rena 2017: Organisation und Verfahren. Zur Legitimation von Entscheidungen zwischen Interaktion und Gesellschaft. In: Soziale Systeme 22 (1-2). Zeitschrift für soziologische Theorie. Sonderheft „Legitimation durch Verfahren“ – Rezeption, Kritik und Anschlüsse. Heck, Justus; Itschert, Adrian; Schmidt, Johannes & Tratschin, Luca (Hrsg.), S. 381-423. (Open Access)

Schwarting, Rena 2019: Zur Programmatik einer historisch-soziologischen Organisationsforschung. In: Böick, Marcus & Schmeer, Marcel (Hg.). „Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert“. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, S. 103-138. (Open Access)

Schwarting, Rena 2020: Organisationsbildung und gesellschaftliche Differenzierung. Empirische Einsichten und theoretische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag. (Open Access)

Stollberg-Rilinger, Barbara / Krischer, André (Hrsg.) 2010: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen: Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin: Duncker & Humblot.

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