Unkenrufe

Krisenzeit ist immer auch Expertenzeit. Und da die Eurokrise, nach einvernehmlicher Meinung der deutschen Medien, die schlimmste und existenziellste Bedrohung der EU seit ihrem Bestehen ist, liegt es nahe, dass insbesondere hier Experten benötigt werden, um dem interessierten Leser bzw. Zuschauer die Dramatik der Krise vor Augen zu führen. Und dies scheint sich für den geneigten Beobachter zu lohnen! Insbesondere dann, wenn es so skurril wird, dass sich Investmentbanker in Reden mit pseudowissenschaftlichem Anstrich genötigt fühlen, die Politik darauf hinzuweisen, dass schnell gehandelt werden muss – und um die Dramatik zu erhöhen auch noch einen fixen Zeitrahmen, in dem gehandelt werden muss, beifügen. Man fragt sich, was wohl passieren würde, wenn Politiker anfingen, Investmentbanker über die Medien hinsichtlich spekulativer Geschäfte auf fallende/steigende Währungen einzelner Länder zu beraten? Man kann also mit einigem Recht fragen, warum gerade dem Milieu der Investmentbanker, das einen nicht unbedeutenden Anteil an der aktuellen Krise hat, kontinuierlich die Möglichkeit gegeben wird, diese im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten öffentlich zu diskutieren? Wahrscheinlich, so die Antwort, weil sich die Massenmedien von diesen Gesprächen tiefgründigere Einschätzungen versprechen, als durch das beliebte Interviewen unbeteiligter Passanten zu erlangen sind. Der Umkehrschluss, dass es oftmals mit dem Verständnis der Krise nicht allzu weit her sein kann, wenn die Leute, die die Krise heute erklären, diese gestern durch anderes Handeln ihrerseits auch hätten verhindern können, verbietet sich von selbst: keine Expertise, keine Interviews.

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Das Eigenrecht der Hauptversammlung

Ein Vergleich zwischen der Nutzung von Stimmrechten und anderen Einflussmitteln

Kommunikation beginnt beim Verstehen. Es kann dabei nicht um richtiges Verstehen gehen, denn selbst einfach mal Klartext zu reden, bleibt eine psychische Utopie. Sie kann nur sozial, also kommunikativ fingiert werden. Der Anspruch authentischer Kommunikation konfrontiert nicht nur Autor und Publikum mit kognitiven Grenzen, sondern auch die Motive und Gedanken hinter der Mitteilung oder hinter dem Verstehen können nicht restlos geklärt werden.[1] Und wenn so zwangsläufig der Selbstinszenierungs- oder Manipulationsverdacht bei jeder Kommunikation mitläuft, machen sich Einzelne verdächtig, damit beeindrucken zu wollen, dass sie nun aber doch meinten, was sie sagten. Ein paradoxer Effekt: Wer sich also um Klartext bemühen muss, der hat anscheinend andere Gründe zu verbergen.[2] Diesmal mag sich das Eigenrecht der Situation danach zu Gunsten Herrn Seehofers wenden.[3] Es hätte jedoch auch ganz anders ausgehen können. Die nächsten Nachbemerkungen werden nicht mehr so leicht politisch ummünzbar sein, denn Wiederholungen sind selten noch authentisch.

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Die Facebook-Ideologie #postprivacy

Ist das Internet Teil dieser Welt, oder eine eigene? Wer diese Frage nicht stellt, macht einen Fehler. Wer sie beantwortet auch. Christian Heller macht in seinem Buch zum Thema beide. Es gibt nur noch das Internet und unser Schicksal lautet: „Post-Privacy“. „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“ Sagte der ehemalige Chef von Google, Eric Schmidt. Nun liegt in Deutschland ein Buch vor, das die Alltagsideologie des neuen Industriezeitalters nachliefert: „Post-Privacy – Prima leben ohne Privatsphäre“.

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Kleine Gehälter, große Fragen

Es geht ums Urheberrecht, doch die Bedürfnispyramide muss von Grund auf neu gebaut werden.

Es ist doch sehr widersprüchlich. Nun haben wir die Weblogs, Twitter, Podcasts, Youtube und – ganz neu – Google+Hangouts On Air, endlich lässt sich von allen alles überall sagen. Endlich ist das Echtzeitinternet keine Utopiechiffre mehr und dann entschuldigt sich Max Winde heute zum Einstieg in seinen F.A.Z.-Artikel dafür, dass auch er noch etwas zum Thema Urheberrecht beitragen möchte.

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Zeit, Karl Weick und der 1. FC Köln – oder warum man einen Trainer nicht entlässt

Am 10 März spielte der 1. FC Köln 1:0 gegen Hertha BSC Berlin. Beide Mannschaften befanden und befinden sich aktuell immer noch im Abstiegskampf. Das Besondere an dem Sieg der Kölner war nicht das Ergebnis eines mittelmäßigen Bundesligaspiels, sondern die im Anschluss an das Spiel folgende Entlassung von Volker Finke, seines Zeichens Kölns Sportdirektor seit Februar 2011. Der normale Mechanismus des Fußballs läuft eher umgekehrt: man entlässt nach Niederlagen und gibt nach Siegen – selbst solchen, die lange Niederlagenserien unterbrechen – eher Versprechen, mit dem Trainer weiterzumachen. Man kommt nicht drum herum, das Kölner Verhalten als kontraintuitiv zu empfinden. Aber damit nicht genug: nach der desaströsen 1:2 Niederlage der Kölner gegen und in Augsburg am 31 März wäre eine Freistellung (wie man so schön sagt) des Trainers Solbakken eigentlich erwartbar gewesen.[1] Passiert ist jedoch nichts. Solbakken wurde zwar aufgefordert, der Mannschaft die Leviten zu lesen – man dokumentierte die Ausnahmesituation auch mit einem Klosteraufenthalt im ostwestfälischen Marienfeld -, darüber hinaus ist aber nichts passiert. Es ist diese Ausgangslage, die beide Fälle erwähnenswert macht. Aber haben sich die Kölner einfach den Marktmechanismen widersetzt und entlassen jetzt nur noch nach Siegen und nach Niederlagen, die in der Form desaströser Auswärtsspiele bei einem potentiellen Abstiegskandidaten daherkommen, nicht mehr? Man mag es bezweifeln.

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Was man am Goldman Sachs Skandal lernen kann

Über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Kommunikation von Lernfähigkeit

In Zeiten einer täglich neu ausgerufenen und diskutierten Finanzkrise (auf kriegsdeutsch: Finanzschlacht, Schuldenfeuer, EZB-Operation Bertha) ist der Informationsdruck hoch, um die Themenschwelle der Agenda zu überschreiten und gesellschaftliche Resonanz zu erzeugen. Resonanz im Mediensystem richtet sich nach den sogenannten Nachrichtenfaktoren, zu dessen verbreitester Maxime wohl die Formel des only bad news is good news zählt. Schlechte Nachrichten für die Investmentbank Goldman Sachs war das öffentliche Kündigungsschreiben (Why I am leaving…) eines ehemaligen Mitarbeiters.

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Wie wäre es mit Vertrauen?

Bei all den Lösungen, die diskutiert werde, werden Probleme übersehen. Diese Diagnose kann als die einzig richtige, heute gültige behandelt werden, weil sie inhaltlich so neutralisiert ist. Sie sagt nichts darüber, was ist, sondern nur, dass man es nicht weiß. Nun wird selbst die zeitgeistgegenwärtigste politische Partei gefragt, was in ihrem Programm steht, und anstatt die Frage mutig als absurd abzulehnen, gilt das alte Spiel, in welchem demnächst Inhalte versprochen werden, für eine Zeit, deren zukünftige Probleme erst recht unbekannt sind. Gibt es noch Vertrauen in Personen, Verfahren und Systeme? Wie viel Welt lässt sich einer Idee opfern, die fordert, Einblicke zu gewähren, aber nur aufzeigt, was man alles trotzdem nicht sieht? Warum qualifiziert man sich auch 2012 politisch noch mit Text und Phrasen, deren oberster Kritikpunkt ist, dass sie – wenn es dann tatsächlich darauf ankommt – nicht schnell genug vergessen werden können?

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Wer braucht wozu und wieso überhaupt Piraten?

Zur Bundestagswahl 2009 waren die Piraten eher Protestbewegung als politische Partei, männliche Erstwähler wählten sie damals mit 13 Prozent. Nun, ein Jahr vor der nächsten Bundestagwahl, erweiterten sie das deutsche landesparlamentarische Parteienspektrum inzwischen um 19 Piraten-Abgeordnete. Aber: 94 Prozent der Menschen, die im Saarland tatsächlich Piraten wählten, bestätigen auf Nachfrage den Satz: „Die Piraten sind eine gute Alternative für die, die sonst gar nicht wählen würden“. Und 85 Prozent der Wähler, die tatsächlich Piraten wählten, sagen: „Man könne jetzt, da die Regierung praktisch schon feststeht, auch mal eine andere Partei wählen, die sonst nicht infrage kommt.“ Es sind beeindruckende Zahlen.

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Willkommen Hollande

In der internationalen Politik gibt es zwei Gebote, die lange in Verbindung mit dem Wort Ehrenkodex benutzt wurden. Das eine Gebot besagt, dass ein Staats- oder Regierungschef öffentlich nicht im Namen eines Kollegen sprechen soll. Das andere Gebot besagt, dass sich eine Regierung nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen darf. Das Befolgen der Gebote gilt als politisch tugendhaft. Im politischen Alltag Europas wird das politisch-tugendhafte Handeln aber offenbar immer schwerer.

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Die gottlose Religion der Gottverlassenen

Eine Milliarde Menschen leben auf der Welt in totalen sozialen Netzwerken. Ihr Alltag hängt fast ausschließlich vom unmittelbaren sozialen Miteinander ab. Das Leben in diesen Slums unterscheidet sich in fast allen Bereichen vom westlichen Lebensstil, in dem der Begriff des sozialen Netzwerks Beliebigkeit und Freude mit dem Internet bedeutet. Und auch hier nähert man sich der Milliarde. Facebook steht kurz vor diesem Meilenstein, von dem niemand weiß, was er wirklich bedeutet.

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Des Soziologen guter Freund, der Taxifahrer

Jetzt, da ich gerade diesen nichtssagenden Text lese, muss ich an zwei Dinge denken, die jeden Bielefelder Soziologiestudenten betreffen – oder besser: plagen. Denn wo immer man auf Menschen trifft, die den Anforderungen gemütlicher Geselligkeit nicht gewachsen sind und das Thema Wetter schon hinter sich haben, kommt man darauf zu sprechen: (1) Bielefeld gibt’s doch gar nicht und (2) Was willst du nach dem Studium machen? Taxifahren in einer Stadt, die es nicht gibt? Hahaha.

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