Demokratie: Zeit-, Entscheidungs-, Legitimations- und Verantwortlichkeits- statt Wissensprobleme

Das Internet ist voll mit Leuten, die viel nachdenken aber zu wenig lesen. Die hypermoderne, internetgeprägte Moderne ist, um den Spaß mitzumachen, eine Redundanzgesellschaft. Eines der Themen, durch die das aktuell wieder besonders deutlich wird, ist die Thematisierung der Demokratie.

Was gibt es alles: Fluid Democracy, Real-Time-Democracy oder, um ein Modell explizit zu verlinken: die digitale Demokratie.

Was haben all die Ideen gemeinsam? Sie sind ziemlich kurzsichtig. Sie beobachten Politik allein anhand des Partizipationsprinzips. Legislaturperioden werden verkürzt, Mandate sind nur noch imperativ, es wird sichergestellt, dass jede Idee einzeln berücksichtigt wird und dass die Politik mit notwendigem Wissen ausgestattet ist, das sie bisher ignorierte. (Bzw. die Politik wird mit Wissen von Gruppen ausgestattet, die sie bisher ignorierte.)

Aber sind das die Probleme, die Demokratie löst? Kann man Demokratie allein aus Perspektive des Publikums und der Partizipationsprinzipien beobachten – oder verliert man dabei zu viel aus dem Blick?

In den einschlägigen Zeitschriften der Politikwissenschaft finden sich Texte, die das Problem der Politik als das Problem des „Wie wird aus dem Volkswillen ein Parlamentswille?“ behandeln. Diese Tradition ist jedoch seit mehr als 20 Jahren kaum mehr ernst zunehmen. Diskurs- und Vertragsmodelle sind absolut überholt – auch wenn es noch immer Fraktionen gibt, die ihre deliberativen Modelle propagieren.

Wenn man aktuell über Demokratie nachdenkt, kommen kaum mehr Probleme des Wissens in den Blick. Eher geht es um die vier Problembereiche: Zeit, Entscheidung, Legitimation, Verantwortlichkeit.

Zeit: Die Politik leidet nicht unter einem Wissensproblem. Das deutsche Parlament hat einen, stets bereiten, Wissenschaftlichen Dienst, die EU-Kommission beansprucht gleich mehr als 1700 Expertengruppen (wobei es sich nicht allein um wissenschaftliche Experten handelt, aber es geht ja auch nicht nur um wissenschaftliches Wissen). Wissen gibt es mehr als genug. Allerdings immer weniger Zeit. Umso mehr Wissen, umso weniger Zeit – in doppelter Hinsicht. Zum einen braucht man, wenn man mehr Alternativen sichten muss, mehr Zeit. Zum anderen, verkürzen viele Alternativen auch den Entscheidungszeitraum, weil einige Alternativen nur zeitlich begrenzt zur Möglichkeit stehen, und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Alternative aufkommt, die zu Eile mahnt, nimmt mit der Anzahl von Alternativen zu.

Entscheidung: Und somit ist man bei der Entscheidung. Entscheidungen müssen entschieden werden. Das Konkurrenzprinzip der Regierung/Opposition-Unterscheidung führt dazu, dass immer mehr Entscheidungsdruck entsteht. Denn nicht nur Entscheidungen, auch jede Nicht-Entscheidung setzt die Regierung dem Risiko aus, dass die Opposition bei ihrer Thematisierung sich als bessere Wahlalternative darstellen kann. Entscheidungen müssen jedoch das Zeitproblem auf der einen und das Legitimationsproblem auf der anderen Seite lösen.

Legitimation: Politische Entscheidungen sind nicht dadurch erledigt, dass sie entschieden werden. Sie müssen auch umgesetzt werden. Die Folgen einer Entscheidung (sei es die Wahl, oder die politische Entscheidung) liegen in einer unberechenbaren Zukunft. Eine Entscheidung muss also im Vorfeld, egal was kommt, legitimiert werden. Zurzeit wird das Problem gelöst, in dem ein Entscheider mit einem Mandat ausgestattet wird. Dieses Mandat berechtigt zur stellvertretenden Entscheidung und gilt generalisiert. Egal was kommt, die Person mit Mandat darf/muss entscheiden. In die andere Richtung der Zeitdimension muss diese Entscheidung verantwortet werden.

Verantwortlichkeit: Es muss stets möglich sein, einen Schuldigen zu finden, der, auch wenn er nicht wusste, welche Folgen seine Entscheidungen haben, Verantwortung übernimmt. Denn das eigentliche Problem der Demokratie ist, das über sie selbst nicht entschieden werden darf, sondern stets nur in ihr. Und zum Schutz der Demokratie muss von Zeit zu Zeit ein einzelner Mandatsträger theatralisch geopfert werden. (Nicht ohne Grund heißt Zurücktreten auch „Verantwortung übernehmen“.)

Unter Beachtung dieser vier Punkte: Eine fluid, real-time-, oder digitale Demokratie, in der alle Mitmachen und Beitragen, löst nur ein Problem: das des Wissens, das eigentlich gar nicht besteht.

Politische Enttäuschungen können in diesen Modellen jedoch nicht bearbeitet werden. Die nationalstaatliche Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, übersteht die politische Enttäuschung von 40 Millionen Menschen. Niemand will schwarz/gelb dennoch käme niemand auf die Idee, Merkel und Westerwelle ihren demokratischen Anspruch abzuerkennen. Diesen Spagat von inhaltlicher Unzufriedenheit bei gleichzeitiger Akzeptanz des Systems gilt es zu lösen – alle anderen Probleme von politischer Partizipation und Repräsentation sind zweitrangig.

(Von daher ist es auch, beinah, lächerlich, der Piratenpartei den Vorwurf zu machen, sie habe zwar gute Ideen, sei aber letztlich auch nur eine Partei.)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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