So. Ich bin jetzt im Bilde. Es gibt eine neue Öffentlichkeit, sie heißt Query-Öffentlichkeit. Statt dass, wie früher, irgendwelche „Sender“ entscheiden, was ich wissen darf, entscheide von nun an ich, der „Empfänger“, was ich wissen will. Da nämlich alles, was ich wissen wollen könnte, total verfügbar ist, muss ich nur meine Queries im Griff haben, um an meine Ziele zu kommen. Alles, was ich brauche, ist „Filtersouveränität“, die neue „Informationsethik“ mit der ich den „Kontrollverlust“ überwinde. Ach ja, ein Kontrollverlust entsteht, „wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt“. (Wer mehr davon will, bitte hier nachlesen.)
Man könnte dem Autor solcher Worte zugestehen, dass da wohl ein bisschen was dran ist. Immerhin gibt es einen Fall, in dem solch ein Weltentwurf tatsächlich praktisch umgesetzt wurde: Guttenbergs Dissertation. Er hat so gehandelt. Alle Information, die er brauchte, fand er durch computergestütztes Suchen. Er benötigte nur die richtigen Suchbegriffe, um die Puzzlesteine zu finden und sein Ziel, die „fertige“ Dissertation, zu erreichen. Durch seine „Filtersouveränität“ ist er tatsächlich dem Kontrollverlust, der sich durch die Überforderung an seiner Arbeit einstellte, entgegen gekommen.
Man kommt aber trotzdem nicht umhin, festzustellen, dass der komplette Text von Michael Seemann totaler Humbug ist. Er taugt nicht als Deskription, nicht als Analyse, die Prämissen bleiben unerwähnt, die Argumente sind zu abgehoben und da er sich die Begriffsgehalte alle selbst ausgedacht hat, gibt es auch kaum Möglichkeiten, konstruktiv anzuschließen. Was aber bleibt, ist die Möglichkeit der Kritik. Da aber selbst die allenfalls als soziologische Selbstbefriedigung für ein nur sehr kleines Publikum Sinn (und Spaß) ergeben würde, lass ich das mal sein und schwenke leicht um.
Es gibt nämlich zwei lesenswerte Texte, die sich deskriptiv und konstruktiv mit dem gleichen Thema befassen, ohne gleich eine neue Gesellschaft auszurufen. Peter Glaser hat, mit seiner ganzen Finesse, einen schönen Text zur „Zuvielisation“ geschrieben (Sascha Lobos Text der den Hinweis auf Glasers Text enthält, ist ebenso gelungen). Das ist schon deshalb lesenswert, weil Glaser zu der Generation gehört, die noch aus Erfahrung weiß, wie ein Telegramm funktioniert und dennoch auch Facebook und Twitter und sogar sein Blog bedienen kann ;-). Er kennt beide „Welten“. Er twittert heute virtuos und hat damals wohl ebenso virtuos telegrafiert. (Siehe: „schicket gelder +++ darbe +++ sohn“.)
Aber das Beste: Peter Glaser ist in der Lage, uns lesend an seinem Erleben teilhaben zu lassen, ohne es aus Verlegenheit mit Analyse und Anspruch zu überfrachten. Für kluge Menschen reicht der dadurch ermöglichte lesende Mitvollzug beinah aus, um sich ein Bild zu machen. Es gibt nämlich überhaupt keinen Grund, stets und ständig eine Beobachtung oder ein Verhalten mit theoretischen Überlegungen zu überladen. Und wenn doch, sollte es solch eine Theorie schon geben, sodass man sie mit Empirie konfrontieren kann, statt umgekehrt, aus empirischer Fassungslosigkeit theoretische Vermutungen zu bilden und zu glauben, dadurch sinnvolle Theorien zu erhalten.
Glasers Text reicht also aus. Wer mehr wissen möchte, sollte, statt in der Query-Öffentlichkeit wild zu suchen, in eine Uni-Bibliothek gehen und Literatur konsultieren, die es allein dort gibt. Trotzdem bietet sich Glasers Text an, noch eine Spekulation anzuschließen. Denn es ist, vielleicht bewusst, unklar geblieben, ob er sich durch die „Zuvielisation“ getrieben fühlt, oder ob er sich, wie bei seinem Waldspaziergang, treiben lassen kann.
Sascha Lobo sieht es ja recht locker. Sein Hinweis & Praxistipp lautet: „Die Info findet mich“ & „Augen zu“. Diese Empfehlung ist ebenso knapp wie hilfreich, denn tatsächlich verpasst man offensichtlich recht wenig, wenn man sich einmal treiben lässt, statt den „News“ auch noch aktiv und absichtsvoll hinterher zu jagen. Ich vermute, mit „Augen zu“ kann man eine Liste beginnen, die Tipps aufführt, wie man mit der neuen medialen Vielfalt umgehen kann. Denn es geht gar nicht so sehr darum, einen erlittenen Kontrollverlust auszugleichen, sondern die (neue) Medienvielfalt als das zu sehen, was sie ist: eine außerordentlich nützliche Erweiterung der Bisherigen, die viel eher als Möglichkeit, denn als Notwendigkeit zu charakterisieren ist.
Meine drei Tipps, informiert und gelassen durch den Tag zu kommen:
1. Trotz des großen Meinungs- und Informationsangebots im Internet, sollte man sich vor dem Zugriff auf das reichhaltige Angebot ein wenig fundieren. Auch 2011 bedeutet es einen erheblichen Unterschied, ob man eine „Hauszeitung“ hat oder nicht. Die Idee, John Stewart oder Fefe seien ein Äquivalent für „alte“ Medien ist ein Trugschluss. Das neue politische Kabarett und die Verfügbarkeit von Privatmeinungen sind erhebliche Bereicherungen, doch ihr Potenzial lässt sich erst dann richtig fruchtbar nutzen, wenn man bereits sachlich solide informiert ist. Mindestens einmal täglich sollte man konzentriert ein redaktionell betreutes Medienangebot nutzen und möglichst jeden Tag das gleiche, sodass man mit Duktus und Feinheiten der Berichterstattungsform vertraut ist. Die nennenswerten TV-Angebote („heute-journal“ vor allem) finden sich begrüßenswerterweise im Internet konserviert. Die guten Zeitungen gehen allerdings nicht vollständig in den Zeitungs-Webseiten auf. Hier benötigt man also entweder einen Bib-Zugang oder ein eigenes Abo.
2. Man sollte die neuen Techniken im Griff haben. Es lohnt sich, pro Tag mindestens 5 Blogartikel ausführlich zu lesen. Um sich zu diesen Fünfen aber treiben zu lassen, muss man in der Lage sein, sie aus einem Angebot von mindestens 200 Artikeln zu selegieren. Man sollte also RSS und Twitter (und Anderes) klug nutzen. Ich durchscrolle derzeit 110 RSS-Feeds und folge 130 Twitteranern. Während nun alle von „Gleichzeitigkeitsmedien“ und „Stream-Realität“ sprechen, spielt eigentlich eine Eigenschaft die besondere neue Rolle: Nichts versendet sich. Man muss nämlich – gerade nicht – ständig und überall auf seinen RSS-Reader und seine Twitter-Timeline zugreifen. Es reicht, es ab und zu zu tun und sich die Dinge, die einen eventuell interessieren, kurz für später zu markieren.
Der Stream wird also blitzartig selegiert. Eine Überschrift im RSS-Reader taucht bei mir genau eine Sekunde auf, dann ist sie entweder für später markiert oder weg. Und, wenn Zeit ist (an der Kasse, in der Bahn – man steht ja recht viel rum), rufe ich die markierte Liste auf und lese etwas gründlicher oder sehr gründlich. Manchmal schaffe ich es, am Abend meine tagsüber markierte Liste abzuarbeiten. Doch normalerweise sammeln sich über die Tage Artikel an, die irgendwann die 100er-Marke überschreiten. Doch dann greift ein interessanter Mechanismus: Viele der Artikel, die ich ein paar Tage markiert mit mir herumgetragen habe, haben ihre Relevanz vollständig verloren. Sie werden also ungelesen entflaggt und fliegen davon.
Und es gilt Sascha Lobos Hinweis, dass die Dinge, die einen interessieren irgendwann den Weg zu einen finden. Zwar weiß man nicht, was man nicht mitbekommen hat, doch unzufrieden macht einen dieses Rest-Risiko nicht.
3. Ich denke, und das wird vielleicht zu selten betont, jeder sollte mitmachen. Sachen aufschreiben und sie zum Lesen zur Verfügung zu stellen hat drei gute Gründe. Erstens erfährt man durch diese wörtliche Explikation einer Meinung, welcher Meinung man tatsächlich ist. Zweitens kann man durch das Wissen über die Entstehung eigener Texte fremde Texte viel besser einschätzen. Und drittens hat es Sinn, sich ab und an etwas „von der Seele“ zu schreiben. Es gab ja mal die Tradition des Tagebuchschreibens, die dabei half, einen Tag abzuschließen und sich für einen neuen freizumachen. Dieses Tagebuchprinzip gilt auch, wenn man weder über persönliches noch besonders ehrlich schreibt. Außerdem, so meine Meinung, sollte jeder, der auf fremde Internet-Meinungsangebote zugreift, auch einen eigenen Beitrag leisten. Auch wenn ein Publikum nur als unbestimmte Möglichkeit und Unterstellung dient.
Dieses Selbermachen schützt dann auch zuverlässig davor, ständig zu überlegen, was man da die ganze Zeit macht. Denn eine Rechtfertigung im Sinne von: „Ich entwickle die Query-Öffentlichkeit mit“ ist absolut nicht notwendig. Die Welt funktioniert recht gut ohne tief gehende Reflexion. Und wenn man sie mitgestalten möchte, reicht es, es Zug um Zug zu tun.
(Bild: colemama)
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