Die Reflexe funktionieren noch. Gott sei Dank, denn ohne sie, bliebe von der deutschen “politischen Blogosphäre”* beinah nichts. Die Herren um “netzpolitik.org” haben einen Verein gegründet, die “digitale Gesellschaft”. Doch statt das internetgestützte Engagement begeistert zu begrüßen oder wohlwollend zu ignorieren entschied man sich vielerorts für den dritten Weg, mit dem beinah jede politische Regung in- und außerhalb des Internets begleitet wird: Man hört davon und regt sich auf. Die Kritikpunkte in einem Satz: Die digitale Gesellschaft ist ein abgeschotteter Lobbyverein, der sich anmaßt, die „Netzgemeinde“ zu vertreten und vom Publikum Leistung einfordert, ohne Mitsprache einzuräumen.
Diese Kritik wird beispielsweise durch einen Vergleich zur Piratenpartei konturiert. Die guten Piraten wollen Heimat der „Netzbürger“ sein, sie sind offen für alle Themen und Personen. Der dadurch entstehende Zwang zur Diskussion ist allerdings nicht nervenaufreibendes, Pragmatismus einforderndes, im Grunde als lästig empfundenes Verfahren der Willensbildung, sondern, aus merkwürdigen Gründen, das Lebenselixier der Partei. Dass es die Piraten überhaupt noch gibt, stellt ein kleines Wunder dar. Vor ein paar Jahren sprang man auf den durch Europa rollenden Zug mobilisierungsfähiger Netzpolitikthemen auf, doch anstatt die Lok zu stürmen, trifft man sich seitdem im Bistrowagen “Ortsverein” und spielt “Eine Idee, Zehn Männer, Hundert zu klärende Fragen”. Was der Partei, vielleicht durch ihre Jugendlichkeit, fehlt, ist die Einsicht, dass man in einer nicht perfekten Welt mit ebenso nicht perfekten Werkzeugen durchaus auch mal aktiv mitmachen darf, gerade in der Politik.
In diesem Sinne stellt die “digitale Gesellschaft” vielleicht einen Gegenentwurf zu den Piraten und politischen Parteien überhaupt dar. Der Verein hat eine begrenzte Zahl Gründer und es wird wohl kaum öffentlich diskutiert werden. Zuarbeiten in ideeller und finanzieller Hinsicht sind erwünscht, die Zielrichtung ist allerdings vorgegeben. Die beiden wichtigsten Unterschiede: 1. Die Organisation investiert in eine schmucke, ansehnliche, aussagekräftige “Schauseite” (hinter der sich die eigentliche Arbeit verbirgt). 2. Die Organisation macht ihre Tatkraft nicht abhängig von Wählerunterstützung, sondern handelt auf eigene Entscheidung. Sie zielt nicht auf politische Macht (Gewinnung von Mandaten und Besetzung von Ämtern), sondern agiert im Feld des politischen Einflusses, macht sich unter Mandatsträgern bekannt und bietet Amtsträgern konkret Unterstützung an.
Das klingt auf den ersten Blick nach bösem Lobbying, ist aber in einer politischen Wirklichkeit, die dem “Parlamentarismus” und der “politischen Wahl” enteilt ist, meiner Ansicht nach, folgerichtig. Um das zu verstehen, benötigt man aber weniger eine Eigenschaftsbeschreibung des Vereins “digitale Gesellschaft” als eine Beschreibung der Politik, die aktuell kaum noch in einer “Berliner Republik” stattfindet, sondern längst substanziell, konzeptionell und kulturell in die “EU-Sphäre” abgewandert ist.
Die Spielregeln dort sind andere, und dass darüber wenig bekannt ist, liegt unter anderem daran, dass die EU neben Parlament und politischer Wahl auch auf eine universal informierte Öffentlichkeit nicht mehr angewiesen ist. Trotzdem handelt es sich, zumindest nach soziologischen Gesichtspunkten, um eine Demokratie. Die Fragen sind: Wie funktioniert die EU? Warum sind Vereine, mit einer Anlage wie sie die digitale Gesellschaft aufweist, ein adäquates demokratisches Mittel um sich heute politisch zu engagieren?
Die EU zu verstehen ist nicht ganz einfach. Man muss sich davon verabschieden, zu erwarten, dass sie die gängigen Politikmodelle der EU-Mitgliedsstaaten imitiert und man muss sich, wichtiger noch, davon verabschieden, dass Demokratie funktioniert, wie es sich die Politikwissenschaft die letzten 30 Jahre ausgedacht hat.
Demokratie ist die politische Praxis, die erfolgreich politisch entscheidet ohne Gewalt(mittel) zu (ver)brauchen. Parlamente, Parteien, Wahlen – sind dafür nicht zwingend nötig. Wichtiger ist, dass ein demokratisches Politikmodell Protest erkennt, Engagement einfängt und Entscheidungen so vorbereitet, dass sie ab dem Moment der Entscheidung gelten und nicht aufwendig durchgesetzt werden müssen. Es ist leicht einsehbar, dass die demokratischen Prinzipien in der EU funktionieren – weil Protest fehlt, Engagement genutzt wird und recht selten mit Polizeigewalt EU-Gesetze gegen Widerstand durchgesetzt werden müssen. Auch wenn noch viele Aspekte der politischen Repräsentation und Partizipation unverstanden sind, kann man behaupten: Die EU-Institutionen sind faktisch und substanziell legitimiert.
Der EU sind dabei nicht nur Parteien ziemlich egal, sondern das ganze politische Publikum als solches. Lassen sich die 80 Millionen Deutschen noch über einen Kamm scheren und auf 5 „Volksparteien“ verteilen, ist das für die 500 Millionen EU-Bürger zwischen Mittelmeer und Nordkap ausgeschlossen. Man versuchte erst gar nicht, einen einheitlichen Kulturraum zu definieren.
Gering war somit das Bedürfnis nach europäischen Parteien, die Publikumsausschnitte themenneutral vertreten. Das Zentrum der EU bilden die intergouvernementalen Ministerräte und die supranationale EU-Kommission. Das als „Redeparlament“ in den 1970ern gegründete EU-Parlament bleibt bis heute seiner Rolle als Forum treu, manchmal darf es mitbestimmen, formale Initiativrechte hat es kaum.
Statt Parteien, die ein Publikumsausschnitt repräsentieren, setzt man im EU-Politikmodell beinah ausschließlich auf Interessenorganisationen, die konkret Betroffene vertreten. Das ist der ganze Trick. Alle weiteren Aspekte beruhen darauf.
Die EU ruft nicht zu Wahlen auf, zu denen aus einem kleinen Angebot von Parteien die geeignete (am wenigsten ungeeignete) auszuwählen ist. Die EU lässt sich Beschlussvorlagen, die in mühevoller, politischer Kleinarbeit erarbeitet wurden, nicht in einem vor Machtpolitik erblindeten Parlament zerreden. Und die EU finanziert keine Parteien, nur weil sie es geschafft haben, mithilfe schöner Köpfeplakate die 1%-Hürde zu bewältigen.
Die EU hat ein Budget für Interessenorganisationen, die sich in Brüssel inhaltlich beteiligen wollen. Sie lässt es zu, dass jeder Ministerrat seine eigene Arbeitslogik ausbildet. Und die EU drängt sich nicht auf, sondern bietet Betroffenen formale Strukturen für Mitgestaltung an.
Wie macht sie das? Sie sondiert immer und überall. Was im nationalen Parlamentarismus als unerwünschtes Lobbying gilt, ist in der EU der erwünschte Normalfall. Die EU duldet nicht nur Lobbying, sondern bittet um Mitgestaltung. Betroffene (juristische und natürliche) Personen, die von einer politischen Entscheidung derart positiv oder negativ betroffen sind, dass sie sich organisieren, also Potenzial für politischen Protest / politische Unterstützung darstellen, finden in der EU eine Adresse für ihre höchstpersönlichen Sorgen/Anliegen, unabhängig von Legislaturrhythmen, unabhängig von der politischen Sacharbeit zu anderen Themen.
Es gilt aber: Die Sorgen und Anliegen müssen organisiert vorgetragen werden. Wer einsam herumschreit, sich heute hier und morgen da politisch äußert, wem stetige, themenzentrische Arbeit oder Mobilisierungspotenzial fehlt, wird ignoriert. Dies gilt etwa für die „politische Blogosphäre“, die sich andauernd betroffen wähnt aber nicht imstande ist, sich zu organisieren. Schimpfen und es dabei belassen, alle 4 Jahre zu wählen, das gilt im EU-Zeitalter nicht als politisches Engagement.
Die „digitale Gesellschaft“ tut nun, mit Bezug auf die vorgestellte Diagnose des EU-Politikmodells, das richtige: Sie stellt eine themenzentrische, politische Organisation dar, die programmatisch eng und personell eindeutig gefasst ist und für die Politik eine ordentliche Adresse darstellt. Und es gilt im Besonderen, dass sie eine Adresse für „etwas“ ist, dass sich bislang als recht unorganisiert und ziemlich unadressierbar darstellte: politische Anliegen und Sorgen, die mit mal mehr, mal weniger Sachverstand ins Internet geschrieben werden.
Bleibt die Kritik daran. An dieser Stelle könnte man der Einfachheit halber auf Sascha Lobos Vortrag zur Trollforschung auf der re:publica verweisen. Er nutzt die ersten Minuten, um seinem Publikum vorzuwerfen unorganisiert zu sein, für die wissbegierige Gesellschaft trotz Großmäuligkeit nicht als belastbare Adresse zur Verfügung zu stehen, nur wild rumzupöbeln, destruktiv alles zu kritisieren anstatt selbst einmal mittels Tat konstruktiv in die politische Wirklichkeit einzugreifen. Und recht hat er! Nach 10 Jahren Selbstbejubelung bleibt die „politische Blogosphäre“ in Deutschland beim Beschimpfen anderer.
Dass man sich jetzt darüber aufregt, dass die „digitale Gesellschaft“ ihren Anspruch als Namen trägt, dass sie die Repräsentation des „unrepräsentierbaren Selbst“ beansprucht, dass sie keine Diskussionen zulässt … Dieses Gerede kann von den Machern zurecht wegen vorhersehbarer Folgenlosigkeit ignoriert werden.
Die „digitale Gesellschaft“ ist ein Mitspieler in der Politik, wie viele andere. Nicht wenige tragen lustige Namen: „Institut der deutschen Wirtschaft“, „Vertretung des Landes Brandenburg bei der Europäischen Union in Brüssel“, „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“, „Allgemeiner Deutscher Automobil-Club“ – sollten sich jetzt alle Unternehmer, Brandenburger, Sozialdemokraten und Autofahrer empörend erheben, nur weil sie nicht verstehen, dass das Grasbüschel unter dem Wegweiser noch nicht das Ziel ist?
Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass Johnny Häusler und Markus Beckedahl plötzlich nur noch Blödsinn machen, nur weil sie sich in die Lage versetzten, politische Budgets anzuknabbern und Einfluss auszuüben. Ihren Pragmatismus haben sie bereits bewiesen und perfekt sind sie auch nicht. Es ist also alles gut. Von der Anlage her, ist es einer der interessantesten Versuche, Themen die im Umgang mit dem Internet aufkommen in die Politik zu impfen.
* nicht zu verwechseln mit den „AK“-Initiativen, den FoeBuD- und CCC-Bemühungen, usw.
(Bild: René Slaats)
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