Der Prinz-von-Homburg-Effekt. Was man von Heinrich von Kleist über die Skandale bei Wirecard, VW und FIFA lernen kann

Wenn wieder einmal eine Organisation wegen eines Umweltverstoßes, Schmiergeldskandals oder einer Finanzmanipulation in der öffentlichen Kritik steht, lohnt sich ein Blick in das klassische Theaterstück des Dramatikers Heinrich von Kleist über die Befehlsverweigerung des Prinzen Friedrich von Homburg. Kleist, der selbst in seiner Jugend als Leutnant in der preußischen Armee gedient hatte, konfrontiert in diesem Theaterstück seinen Helden mit allen Tücken einer erfolgreichen Regelabweichung. Die Geschichte ist denkbar einfach. Der Prinz von Homburg dient als General der Reiterei in der Armee des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Vor der Schlacht gegen die schwedischen Truppen erteilt der Kurfürst seinen Generälen den Befehl, den Feind nur nach ausdrücklicher Anordnung anzugreifen – jeder solle, „wie immer auch die Schlacht sich wenden mag, vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen“. Der oberste Befehlshaber der Armee verpflichtet die Organisation und all ihre Mitglieder auf strikte Gefolgschaft und Einhaltung der Befehlswege.

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Bilanzfälschung. Zur übersehenen Normalität des Falles Wirecard

Bilanzskandale beschädigen das Vertrauen in das Management von Unternehmen. Auch nur vage Andeutungen einer „Enronitis“ – die nach dem spektakulär gescheiterten US-Energiekonzern benannte Tendenz von Unternehmen, ihre Zahlen besser dazustellen, als sie wirklich sind – versetzen Börsenaufsicht, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensmanagement in wilde Hektik.[1] Manager, die ihr Zahlenwerk zu sehr manipuliert haben, werden medienwirksam in Handschellen dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Wirtschaftsprüfer geloben, Abbitte für ihre fehlende Aufmerksamkeit in der Vergangenheit zu leisten, und verschärfen ihre Qualitätssicherung. Die Börsenaufsicht erfindet eine Reihe neuer Regeln, um den verängstigten Kapitalanlegern zu signalisieren, dass man alles tut, um das Problem einer allzu fantasievollen Bilanzführung und -prüfung in den Griff zu bekommen.

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Bullshit – Warum es hilfreich sein kann, manchmal nicht auf den Punkt zu kommen

Das Spielen von Bullshit-Bingo hat sich zu einer Strategie von Mitarbeitern entwickelt, Sitzungen mit allzu vielen Plattitüden ihrer Vorgesetzen zu überleben. Vor Beginn eines Meetings erstellt man eine Liste mit den gerade in der Organisation besonders populären Begriffen und ordnet Sie in einem 5 x 5 Schemata an – Wertschätzung, Synergie, Proaktiv, Mindset, Nachhaltigkeit, Innovation, Integrität, Exzellenz, Effektivität, Disruption und Agilität werden vermutlich häufig zu den Favoriten gehören. Immer, wenn in der Sitzung einer dieser Begriffe fällt, streicht man diesen weg. Wer zuerst horizontal, vertikal oder diagonal fünf Worte in einer Reihe durchgestrichen hat, ruft laut (oder vielleicht auch besser leise) Bingo und hat gewonnen.

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Über die nützliche Filterwirkung internetbasierter Interaktionen. Zum Unterschied von Interaktion unter Anwesenden und unter Abwesenden

Die Ersetzung der Präsenzlehre durch Fernunterricht aufgrund der Corona-Pandemie hat unter Lehrenden zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen geführt. Für die einen stellt die kurzfristige Umstellung auf die Fernlehre eine Zumutung dar, weil weder die technischen noch didaktischen Voraussetzungen dafür beständen. Einzige Konsequenz könne, so die Schlussfolgerung, die staatliche Verordnung eines „Nichtsemesters“ sein, in dem Dozenten und Studierende vom Druck des Lehrens und Lernens befreit werden.[1] Andere sehen im erzwungenen Ausfallen der Präsenzlehren die Möglichkeit, der webbasierten Lehre einen entscheidenden Schub zu versetzten. Teilweise herrscht bei technikaffinen Lehrenden eine wahre Euphorie, weil sie sich erhoffen, endlich die Konzepte einer internetbasierten Lehre umsetzen zu können, die durch das bisher übliche routinemäßige Abspielen von zweistündigen Präsenzveranstaltungen blockiert worden ist.

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Krisen – Der Umgang von Organisationen mit Kriegen, Hungersnöten und Pandemien

Krisen gehören für Organisationen vielleicht nicht zum Alltag, kommen aber immer wieder vor. Absatzmärkte brechen plötzlich weg, weil ein Produkt nicht mehr gefragt ist, und führen in Unternehmen zu Liquiditätsproblemen. Relevante Mitarbeiter verlassen gleichzeitig ein Forschungsinstitut und hinterlassen dadurch riesige Kompetenzlücken. Das gerichtliche Verbot eines Prestigevorhabens im Bereich der Verkehrspolitik wirft nicht nur die Frage an die Fähigkeiten eines Ministers auf, sondern hinterfragt auch die Qualität des ihm zuarbeitenden Ministeriums.

Diese Krisen können in einigen Fällen zwar aufgefangen werden, in anderen können solche Umstände aber sogar zum Scheitern der Organisation führen. Ein solches Versagen ist in der modernen Gesellschaft der Normalfall. Unternehmen kommen und verschwinden, Forschungsinstitute werden gegründet und wieder aufgelöst, Ministerien gebildet und bei Bedarf auch wieder umgestaltet. Für die Mitarbeiter mag das Verschwinden einer Organisation ein einschneidendes Erlebnis sein, die Effekte für die Gesellschaft sind allerdings minimal, weil andere Organisationen an die freigewordenen Stellen treten.

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Slack – Vom Nutzen und Schaden von Fettpolstern

Sehr häufig bilden Organisationen überschüssige Reserven – organisatorische Fettpol­ster oder auch „Slack“ – aus, die nicht dem eigentlichen Arbeitszweck dienen und aktuell nicht von der Organisation nachgefragt werden: Eine Armee hält sich Ersatzteile für Panzer auch dann vorrätig, wenn kein militärischer Konflikt bevorsteht. An zentralen Bahnhöfen unterhalten halten staatliche Verkehrsbetriebe Pools von Technikern, die komplizierte Fehlerquellen beseitigen können, auch wenn deren Qualifikationen nur selten nachgefragt wird. Ein Landkreis erklärt sich bereit Krankenhausbetten zu finanzieren, die nicht permanent gebraucht werden, um auf eine Katastrophe oder eine Pandemie eingestellt zu sein.[1]

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Von der notwendigen Unterscheidung von Gruppe und Organisation

Systeme lassen sich gerne von systemtheoretischen Soziologen über ihre Umwelt informieren, nehmen aber eher widerwillig soziologische Beschreibungen ihrer eigenen Systeme zur Kenntnis. Religiöse Organisationen lassen sich bereitwillig von der Soziologie über die Folgen einer neuen Familiengesetzgebung aufklären, empfinden die soziologische These, Religion sei „Opium fürs Volk“ jedoch nicht als informative Fremdbeschreibung, sondern als unverschämte Provokation. Organisationen, die sich dem Konzept des New Work verschreiben, lassen sich derweil gerne von Soziologen über veränderte Wertvorstellungen junger Erwachsener und deren Auswirkungen auf die Berufswahl informieren, hören sich aber nur widerwillig soziologische Beschreibungen über die klassischen Strukturprobleme enthierarchisierter und entformalisierter Organisationen an.

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Funktionale Regelverstöße und brauchbare Illegalität – Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen

Im Allgemeinen werden Regelabweichungen und Gesetzesbrüche in Organisationen als Problem betrachtet. Sie werden als „Verfehlung“, „Fehlverhalten“ (Wardi und Weitz 2004), „antisoziales Verhalten“ (Giacalone und Greenberg 1997), als „Sittenverfall“ oder gar als „Verbrechen“ bezeichnet (Greve et al. 2010). Gesprochen wird von den „schmutzigen Geschäften“ von Unternehmen (Punch 1996), dem „falschen Handeln“ in Organisationen (Palmer 2012) oder den „dunklen Seiten“ von Organisationen (Vardi und Wiener 1996). Die Organisationen, in denen solche Regelabweichungen und Gesetzesbrüche exzessiv zu beobachten sind, werden als „unzivilisierte Organisation“ (Andersson und Pearson 1999) oder als „Schattenorganisationen“ (Allen und Pilnick 1973) bezeichnet.[1]

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Positivierung und Formalisierung

Das Verhältnis der Erwartungsbildung in Staaten durch positives Recht und der Ausbildung von Erwartungen in Organisationen durch Formalisierung ist bisher theoretisch unzureichend beleuchtet worden. Aus einer systemtheoretischen Perspektive werden in diesem Artikel die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser „Rechtsbildung“ auf der Ebene des Staates und der Organisation näher untersucht. Anschließend an die Diskussion über die Frage der Verantwortung für Gesetzesverstöße aus Organisationen heraus, werden die unterschiedlichen Adressierungsversuche soziologisch eingeordnet. Dabei wird gerade im Gegensatz zur in der Literatur dominanten Annahme über Regeltreue in Organisationen argumentiert, dass es aufgrund der Verrechtlichung der modernen Gesellschaft nicht möglich ist, eine klare Trennung zwischen Verstößen gegen positivierte staatliche Gesetze und formalisierte organisationale Regeln vorzunehmen.

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Zur Entstehung, Durchsetzung und Regulierung von Regelabweichungen

Organisationsmitglieder können sich auf der sicheren Seite wähnen, wenn sie sich sklavisch an organisationale Regeln und staatliche Gesetze halten. Schließlich geben sie Vorgesetzten keinen Grund für eine Abmahnung oder Kündigung, wenn sie sich an die formalen Regeln der Organisation halten. Organisationsmitglieder, die staatliche Gesetze genau befolgen, bieten des Weiteren keinen Anlass für Strafverfolgungen oder Zivilklagen und können sich deswegen auch offiziell keine Vorwürfe machen lassen. Aber warum – so die naheliegende Frage – gehen Organisationsmitglieder dann überhaupt das Risiko der Regelverletzung und des Gesetzesverstoßes ein?

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Heuchelei statt Konflikt

Zur Wirkung von Moral in Organisationen[1]

Ein Beitrag für Cristina Besio und André Armbruster (Hg.) Organisierte Moral Wiesbaden: Springer VS 2020

In der Forschung wird davon ausgegangen, dass Moralkommunikation zu heftigen Konflikten führt, weil bei dieser immer persönliche Achtung oder Missachtung zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Artikel wird im Gegensatz zu dieser Annahme argumentiert, dass von der Organisationsspitze eingeführte Moralkampagnen in der Regel zu Heuchelei führen. Die über Hierarchie formalisierte Machtasymmetrie in den meisten Organisationen verhindert, so das Argument, moralisch geführte Konflikte und führt stattdessen zu einer oberflächlichen Anpassung der Organisationsmitglieder, an die von oben vorgegebenen moralischen Richtlinien. Weiterlesen →

Regelbuch statt Regelbruch

Zum Umgang mit unbrauchbarer Legalität in Organisationen[1] „Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren.“ Der Soziologe Heinrich Popitz (1968: 10)

Die ungewollten Nebenfolgen der verstärkten Durchsetzung von Regeltreue in Organisationen sind in den letzten Jahrzehnten umfassend herausgearbeitet worden. Dieser Artikel greift diese Forschung auf und ordnet sie theoretisch ein. Dabei wird gezeigt, dass als Reaktion auf das Bekanntwerden von Regelbrüchen und Gesetzesverstößen, Organisationen nicht nur mit Maßnahmen auf der Schauseite reagieren, sondern formale Veränderungen in den Kommunikationswegen, bei den Programmen und beim Personal vornehmen. Die Effekte dieser formalen Veränderungen sind eine zunehmende Bürokratisierung der Organisation, eine Zweck-Mittel-Verschiebung, bei der die Regeltreue immer mehr zum Selbstzweck wird und die Verlagerung der Kompetenzen zu den für Regelüberwachung zuständigen Stabsstellen. Weil sich viele Organisationen ein Scheitern aufgrund zu strikter formaler Regeln nicht leisten können, führt diese verstärkte Formalisierung zu informalen Ausweichbewegungen in Form von neuen Regelabweichungen. Effekt können bürokratische Teufelskreise sein, in denen die verstärkte Betonung der Formalität zu immer neuen informalen Umgehungsversuchen führt, auf die dann mit immer weiteren Verschärfungen formaler Vorschriften reagiert wird. Ein Effekt dieser bürokratischen Teufelskreise ist, dass sich das Wissen über Regelabweichungen immer mehr auf kleine durch informale Verschwiegenheitserwartungen geschützte Kreise beschränkt und damit für die Organisation insgesamt nicht mehr zugänglich ist. Weiterlesen →