Ausgänge aus fremdverschuldeter Alternativlosigkeit?

In der heutigen F.A.S. ist ein interessanter Text über die „Diktatur der Notengeber“. Nach mehreren Jahren Krise wissen wir zwar immer noch nicht, ob es sich nun um eine Wirtschafts-, Politik-, Vertrauens- oder Währungskrise, eventuell in wilder Kombination, handelt, oder ob sie sich vielleicht nicht doch (irgendwann einmal rückblickend) noch als lähmende Zukunfts- oder Mutkrise entpuppt. Eine Einschätzung wird aber landläufig geteilt: Die Ratingagenturen sind schuld. Es ist die Idee des obigen FAS-Textes, diese Idee aufzugreifen, um sie ein bisschen zu entschärfen. Mithilfe eines kurzen historischen Rückblicks wird aufgezeigt, dass die Politik Verlässlichkeit suchte, die sie in institutionalisierten Marktbeobachtern und „Bonitätsprüfern“ fand. Mit dem Argument, dieses System habe sich historisch (und damit zwangsläufig unvorhersehbar) zum heutigen Gebaren entwickelt, ist jedoch nur eins von zweieinhalb auffälligen Strukturmomenten dargestellt, die alle beachtenswert sind. Ich erlaube mir an dieser Stelle eine Ergänzung des Textes, die an Punkt 1: historische Logik aus ihm anschließt.

Punkt 2: Die Beobachtung, dass die Ratingagenturen wichtig sind und der Vorwurf, dass sie durch ihr Handeln erst wirtschaftliche Realität schaffen, die sie eigentlich bloß beobachten sollen, sind, um erklärend sein zu können, ergänzungsbedürftig, wenn man darauf hinweist, dass dieses folgenreiche Beobachten bekannt ist und dennoch wirkt. Es erscheint grotesk, in dem Artikel zu lesen, dass ein Standard & Poor‘s Mitarbeiter selbst mahnen muss, dass ein Rating „die eigenen Analysen des Investors“ nicht ersetzt. (Das mögliche Erklärungsargument, der Mitarbeiter wolle sich gegen Vorwürfe bezüglich falscher Ratings immunisieren, griffe hier zu kurz.)

Eine mögliche Erklärung, weshalb sich Staaten ausführlich an „rating-events“ orientieren und private Investoren auch nicht darauf verzichten wollen, liegt vielleicht in der Funktionslogik einer Troika, die durch ihre strukturellen Gegebenheiten ein Mehrfaches an Handlungsmöglichkeiten offeriert, als wenn sich Sellers und Buyers ohne weitere Hilfe gegenüberstünden. Wenn man sich gegenseitig nicht in die Karten schauen lässt, sieht man nur noch Preise und wird darüber blind. Marktblind sozusagen, wie man schneeblind wird, wenn man nichts als konturlosen Schnee sieht.

Ratingagenturen überführen, als dritte Institution neben Käufern und Verkäufern, die wirtschaftliche Kommunikation aus der Oszillation zwischen zwei Polen in die Zirkulation zwischen dreien. Der daraus entstehende Vorteil ist so immens, dass selbst billigste Zauber ohne Bemühungen um Ablenkungsmanöver funktionieren, weil ansonsten so gut wie gar nichts funktionieren würde.

Wenn man Ratingagenturen (namentlich oder generell) kritisiert, müsste man also stets eine Ersatzinstitutionalisierung anbieten, die sich gegen die Logik der Ratingagentur stellt aber trotzdem die Logik einer Troika beachtet. Und das ist schwierig. (Ausführlicheres zur Troikalogik hier.)

Punkt 2,5: Man könnte Punkt 2 argumentativ auf einen Hinweis runterbrechen: Wie ein Kontrakt zur Vollstreckung als dritte Institution Gerichte benötigt, ist er zur Vorbereitung auf Ratingagenturen als dritte Institution angewiesen. Wenn man diese, für den Finanzmarktkapitalismus spezifizierte, Troika-Logik akzeptiert, ist eine Beobachtung auffällig: Ratingagenturen ergänzen das Wirtschaftssystem um ein normatives Element. Wenn es den Kontraktparteien tatsächlich reichen würde, Märkte zu beobachten, um Handlungsrationalität zu gewinnen, könnte man Ratingagenturen sehr leicht durch Preisbeobachtungen ersetzen. Indizes, Kreditversicherungsprämien, Kosten für Optionen und solchen Kram – man kann mit ihnen beobachten, was andere am Markt so beobachten und daraus lernen. Doch das reicht offenbar nicht. Investitionsentscheidungen müssen anders abgesichert werden als in Ahnungen, die man aus Marktbeobachtung gewinnt.

Risiko ist erträglicher, wenn man eine geteilte Meinung Dritter vorzeigen kann, die sich nicht ständig wie das Fähnchen im Wind dreht und die sich vor allem nicht mit der Investitionsentscheidung verflüchtigt. Wenn Investitions-Gewinn-Erwartungen nicht begegnet werden, ist es gut, wenn die Enttäuschung nicht nur auf das eigene Wissen, die eigenen Vorleistungen zurückgeht, sondern die alte Selbstbehauptung (nachträglich) mit einer „objektiven“ Zweitmeinung gegen ihre Enttäuschung noch aufrechterhalten werden kann. Ratingagenturen, die ihre Ratings mit Datum verschriftlichen und so sichtbare Wegmarken im Geldstrom der Wirtschaft setzen, die auch rückblickend noch zur Befragung kommunikativ verfügbar sind, erlauben es, die Ursachen für Scheitern von einem abzuweisen. (Abstrakt: Ratings erlauben Formenbildung, wie sonst nur Preisbildung durch Zahlungsoperation. Also: Formbildung ohne Operation, wenn man es etwas schludrig, streng theoretisch falsch, aber instruktiv ausdrückt.)

Unter allen Orientierungsmöglichkeiten, die das Wirtschaftsgeschehen zur Verfügung stellt, bietet ein Rating den einzigen Orientierungswert, der für eine Investitionsentscheidung ausgebeutet werden kann, ohne dass er sich der Rationalität dieser Investitionsentscheidung unterordnet. Ein Rating ist ein Rating. Es verklausuliert Handlungsempfehlungen für Investoren, ignoriert diese jedoch, sondern beobachtet nur das zu bewertende Gut. Der Rationalitätsgewinn für den Investor ist minimal, aber gegeben (und einzigartig).

Wer ausschließlich Märkte beobachtet, dann aber mit Verlust investiert, steht selber in der Verantwortung, es das nächste Mal besser zu machen – zu lernen. Er kann die Gründe für seine Enttäuschung nur schwer externalisieren. Wer vorher eine Ratingagentur fragt, muss zwar etwas mehr bezahlen (falls es nicht eh schon ein öffentliches Rating ist), ist aber im Enttäuschungsfall wenigstens nicht (nur) selbst schuld.

Dieser Mechanismus der Externalisierung funktioniert aber nur, wenn man sich nicht wiederum dem Vorwurf aussetzt, die falsche Ratingagentur beauftragt/konsultiert zu haben (also doch wieder selbst schuld zu sein). Das ist vielleicht ein wichtiges Argument für die Monopolisierung des Ratinggeschäfts, das derzeit ebenfalls vielfach kritisiert wird.

Wenn man beobachtet, wie die Krise derzeit konkret bewältigt wird, dass also auf Ratings geachtet wird, damit (1) Zentralbanken in ihren juristischen Korridoren als Käufer von Staatsanleihen dienen können, damit (2) Investitionsentscheidungen positiv ausfallen, wird schnell klar, wo das größte Problem der Krisenbewältigung liegt: Sie ist alternativlos. Die Gesellschaft braucht Geld, Geld muss zirkulieren, ohne materiell rückversichert zu werden. Als Rückhalt für den Wert dienen Staatsverschuldung, (Zentralbank-)Kreditversprechungen, positiv geprüfte Bonitäten, anerkannte Weltwirtschaftsinstitutionen, wissenschaftliche Institute, … und alle müssen in dieser Logik mit ihrem engen Spielraum ineinandergreifen. Und die Handlungskorridore in diesem Gefüge werden von Tag zu Tag enger.

Man kann nur feststellen, dass zwischen Lehmann- und Griechenlandpleite Zeit verschenkt wurde, sich mit ein bisschen Ruhe etwas Neues auszudenken. Der F.A.S.-Text schließt mit der Idee, man könne doch Ratings auf das Bedeutungsniveau von „Biosiegeln für Lebensmittel“ degradieren. Schließlich kann man sie zum Schutze der eigenen Gesundheit beachten, muss es aber nicht. Kann man sich aber eine Wirtschaft vorstellen, in der man Profit machen kann, aber nicht muss?

Nein. Im Gegensatz zu Gesundheit, die man biologisch/ontologisch mit einem (ziemlich) absoluten Maßstab messen kann, ist Profit nur relativ messbar. Mehr Profit des einen, ist mehr Verlust des anderen. Es gab die Woche einen interessanten Hinweis (ich weiß nicht mehr wo) darauf, dass die Deutsche Bank durchaus bereit ist, sich öffentlich für eine Gläubigerbeteiligung bei der Griechenlandhilfe auszusprechen, weil sie in dem Falle weniger Verluste machen würde als ihre Konkurrenten und somit, was das Bankensystem angeht, gestärkt aus der Krise hervorgehen könnte. Vielleicht sollten die Spitzen(mäßigen)politiker, die sich derzeit um die Krisenbewältigung kümmern, auf solche wirtschaftlichen Kalküle reagieren und mal ebenso rational an die Sache herangehen, wie es ihnen die Banken vormachen. Sie könnten nur gewinnen: Glaubwürdigkeit, politische Handlungsfreiheit, generelle Wohlfahrt, Frieden. Für Griechenland ist es bereits zu spät. Neben gekränktem Stolz vor Ort und dem Fass-ohne-Boden-Gefühl in Resteuropa ist zu lesen, dass man inzwischen schon mehrere Personen fragen muss, bis mal jemand zusagt, dort Finanzminister werden zu wollen. Wenn politische Ämter unattraktiv werden, ist das ein ebenso erschreckendes Indiz für Endzeit, wie die Gewalt auf der Straße.

In diesem Sinne, für alle die bis zum Ende dieses Textes durchgehalten haben: Die historische Mahnung zur Krise befand sich heute in der F.A.S. nicht im Ratingagenturtext, sondern im Einstieg ins Feuilleton. Katja Petrowskaja aus Kiew erzählt, nicht wütend, sondern betrübt, davon, wie man das Kriegsende 1945 rückblickend, mal von den amerikanischen Heldensagen absehend, beschreiben kann: „Stalin versenkte Hitler im Blut der sowjetischen Menschen, seines eigenen Volkes.“ Vielleicht kann man aus solchen Sätzen ein funktionierendes politisches Kalkül für eine mutige Krisenbewältigung ableiten, das sich nicht in Alternativlosigkeit verstrickt?

(Bild: Oliver Degabriele)

1 Kommentar

  1. awj sagt:

    Sehr interessant!
    Eine Troika mit den elementen Ratingagentur und Wirtschaft könnte spannend werden, wenn das 3.Element davon die Gesellschaft (als quantifizierte Stimmungslage) darstellte. Wirtschaft auf demokratischer Basis könnte damit verwirklicht werden.
    Die Überschußzahlen der Länder werden bemessen und mit der entsprechenden Arbeitszufriedenheit abgewogen. Sollten die Überschußzahlen nur über hohe Arbeitsunzufriedenheit erzielt werden, könnte das Rating damit schlechter ausfallen. Bezogen auf alle Länder könnte so ein globales Gleichgewicht entstehen. ;D

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