Das Echtzeit-Internet, es bleibt hier noch eine Weile als Thema erhalten. Diesmal durch die wirklich gute Idee, das Internet als Exoskelett des Denkens zu bezeichnen. Seit Mitte 2007 kann man das Internet und mit ihm das gesammelte Weltwissen, in der Hosentasche mit sich tragen. Es ist nicht mehr an den (großen) Computer und damit weder an einen festen Standort noch an anwendungsaufwendige Technologie gebunden. Es ist einfach da, wenn man es braucht – auf Knopfdruck.
Vor etwa einem Jahr bin ich dazu übergegangen, mein iPhone als vollwertiges, manchmal sogar mehrwertiges „Zweitgehirn“ zu betrachten und es auch so zu nennen. Jeder Text, der diese Idee teilt, erhält meine volle Aufmerksamkeit.
Michael Seemann versucht sich nun daran das Phänomen für Außenstehende zu erfassen und zu beschreiben. Sympathischer Weise stützt er sich auf Soziologen, inhaltlich und namentlich. Ich denke allerdings, er setzt auf einer, wenn man sie auflöst, nicht haltbaren Problemstellung auf. Denn wieder einmal wird versucht, ein Phänomen als neu zu beschreiben, obwohl weniger seine Neuheit als die Andersartigkeit das Problem ist. (Bei der Markierung von Phänomenen als „neu“ ist zudem stets die soziologische Testfrage angebracht, ob es sich tatsächlich um ein neues Phänomen oder nur um eine neue Idee (s)einer Beschreibung handelt. Beim Thema hier müsste man sagen, dass eine Struktur seit langem gegeben ist, der nun eine adäquate Beschreibung nacheilt.)
Die These des verlinkten Textes: Das mobile Internet erlaubt uns, Gehirnleistungen zu externalisieren. Die nicht hinterfragte Frage ist allerdings: Ist das Phänomen der Externalisierung von Gedächtnis und Intelligenz erst durch das Internet geschaffen worden?
Dazu zwei Anmerkungen:
(1) Für keine historische Zeit kann man davon ausgehen, dass das menschliche Gehirn (bzw. Bewusstsein) das einzige selbstreferentielle System ist, dass sich mit Methoden und Programmen der Erkenntnisproduktion der Welt zuwendet. Auch ohne Internet, Computer, ARD/ZDF oder gar Buchdruck ist der Mensch von sozialen Systemen „umhüllt“, die durch ihre Struktur Orientierungsleistungen erbringen. Diese Strukturen reduzieren Möglichkeiten, legen objektive Gegebenheiten fest und schränken Erwartungen ein. Dieser Bereich lässt sich nur mit großen Mühen umschreiben und unterscheiden – es reicht hier allerdings auf die Kurzformel „Kultur“ zurückzugreifen.
Jedes soziale Umfeld, sei es eine mittelalterliche Villikation im 9. Jhd., ein Königshof im 14. Jhd., eine Fabrik im 18. Jhd. oder ein Webforum im 21. Jhd. ist geprägt, bevor man als Einwohner, Angestellter, Mitarbeiter oder „Internetcommunitybenutzer“ hinzutritt. Das fällt besonders auf, wenn man zum ersten Mal auf ein spezifisches Umfeld stößt. Man erlebt einen „Praxisschock“ in der ersten Firma oder den berüchtigten „Kulturschock“ an spanischen Bushaltestellen.
In all den Fällen erlebt die Person das Problem der Externalisierung von Gehirnleistungen, weil es auf soziale Strukturen, Identitäten und Gedächtnisse trifft und diese mit der psychischen Struktur und Identität (Gedächtnis) in Einklang bringen muss. Nachdenken ist schwierig und zeitaufwendig und wird am liebsten vermieden. Die Strategie ist, seit ewig, auf externe Vorleistungen zurückzugreifen.
(2) Das Internet reiht sich in diese Reihe von Maschinen zur Bereitstellung von Strukturen ein. Es fällt allerdings durch Besonderheiten auf. Während die stetig fortgeschriebene Dorfgeschichte, das Ritual am Hof oder das Abendprogramm des Fernsehens so beschränkt ist, dass es implizit als für jeden gleich gegeben unterstellt werden kann, ist das Internet ein Medium, dass jeder individuell erlebt. Während man eine TV-Sendung gesehen hat oder nicht, kann man Sachen aus dem Internet wissen, nicht wissen, über Bande erfahren haben, dort oder dort gelesen haben, gerade erst gelesen haben, schon häufig gelesen haben, lange nicht mehr gelesen haben, … . Das Internet hilft im Alltag ungemein, aber kaum bei der Herstellung von Gesprächsgrundlagen.
Die Externalisierung von Gedächtnisleistungen ist durch das Internet kaum anders gegeben, als durch viele andere „kulturelle Medien“. Doch es fällt durch seinen unsozialen Charakter auf. Mein iPhone erweitert mein Gehirn. Man ist zwar ständig versucht, diese Leistung durch Twitter-Facebook-Buzz-Sharings auch anderen Gehirnen zur Verfügung zu stellen, aber im Vergleich zu den traditionellen Massenmedien gelingt dies kaum bis überhaupt nicht.
Zusammengefasst:
Das Internet externalisiert auf neue und hervorragende Weise individuelle Gehirnleistungen. Es lässt uns Zitate speichern, Zusammenhänge recherchieren, Bilder und Videos festhalten und ansehen, Dinge rechnen, Fakten und Orte suchen. Die Leistung der Komplexitätsreduktion gilt aber immer nur mit Bezug auf ein Individuum.
Und um das Durcheinander des Textes perfekt zu machen, noch ein paar Thesen:
– Das Internet ist unsozial. Gegenwärtig erinnert es an eine riesige iPod-Party. Alle sind da und tanzen, aber jeder hat die Ohren zu, hört seine eigene Musik und niemand hört die Musik des anderen.
– Das „sharen“ von Internetinhalten ändert an diesem iPod-Party-Phänomen kaum etwas.
– Während das Internet die Personen weiter individualisiert, objektiviert es auf der anderen Seite die Nutzer. Das Internet interessiert sich für objektivierte Merkmale seine Nutzer.
Unterthese: Der Unterschied und das Verhältnis von „individualisierte Person“ und „objektivierter Nutzer“ ist nicht nur unerforscht, sondern unbekannt – wird jedoch die Zukunft prägen.
– „Frank Schirrmacher hat recht, wenn er sagt, dass das Denken aus den Köpfen in die Maschinen auswandert“. (Zitat: verlinkter Text) Bis vor wenigen Jahren wurde von Personen entschieden was im Radio läuft, wie ein Supermarkt aufgebaut ist, welche Lackfarben produziert werden, wer am Flughafen genauer kontrolliert wird. In diesen und vielen weiteren Bereichen (von den wir vielleicht nichts wissen), wurde die Denk- und Entscheidungslast an Maschinen abgegeben.
– Das iPhone oder jede andere Internetmaschine, die blitzschnell herangezogen werden kann, um Fakten zu untermauern oder Vergessenes zu erinnern, wird in Interaktion immer ein Fremdkörper bleiben.
(Bild)
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