Gewalt erklären?

 

VorbemerkungDer hier wiederabgedruckte Text ist ein Auszug aus dem Buch Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie von Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl, 2019 erschienen in der Hamburger Edition. Es handelt sich um Teile der Einführung, außerdem hängt unten ein PDF des fünften Kapitels Temporalität und Timing. Grundzüge prozessualen Erklärens von Gewalt an. (Wir danken dem Verlag Hamburger Edition für die freundliche Genehmigung.) Zusammen mit der Kritik von Stefan Kühl soll die Veröffentlichung bei den Sozialtheoristen ein Gespräch fortsetzen, das im Wintersemester 2020/21 in einem Forschungskolloquium an der Universität Bielefeld begonnen hat, und herzlich dazu einladen, mit in die Diskussion einzusteigen. Wer sich nicht nur mithilfe der Kommentarfunktion, sondern mit einem eigenen Beitrag beteiligen möchte, kann sich dafür sehr gerne an Stefan Kühl oder Thomas Hoebel wenden.

 

 

Gewalt erklären? –  Zur Einführung

von Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl

 

Erklären gehört zur basalen Kommunikationsform des Alltags. Auf die Frage, warum wir etwas getan haben, erklären wir, warum. Auf die Frage, wie etwas funktioniert, folgt die Erklärung des Wie. Erklären umfasst Warum-, Wie- und Was-Fragen, und entgegen einer weit verbreiteten Ansicht sind Warum-Fragen nicht privilegierter als andere. Zudem können wir uns nicht auf ein bestimmtes Fragewort verlassen, um festzustellen, ob jetzt eine Erklärung gefragt ist. Was Erklärung meint und welche Aussagen als Erklärungen gelten, ist kontextbedingt und davon abhängig, mit welchen Problemstellungen die Beteiligten gerade befasst sind. Der Begriff des Erklärens hat also verschiedene Bedeutungshorizonte.[1]

Obwohl »Erklären« das Kerngeschäft wissenschaftlicher Disziplinen ist, bleibt in ihnen höchst umstritten, was damit genau gemeint sein soll. Nicht verwunderlich ist deshalb, dass sich auch die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung außerordentlich schwertut, ihren Untersuchungsgegenstand zu »erklären«. Dazu tragen nicht zuletzt bestimmte Besonderheiten dieses Forschungszweigs bei. Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung ist noch recht jung, auch wenn sie seit einigen Jahren geradezu einen Boom erlebt.[2] Somit befindet sie sich gegenwärtig in einer Phase des Testens, Kritisierens und Sortierens seiner Argumente und Ansätze, in der vieles möglich und nicht weniges fragwürdig erscheint. So verfolgen die beteiligten Wissenschaftlerinnen[3] ein breites Spektrum an Zielen, das von einem expliziten Erklärungsverzicht über die eher implizite Weigerung, Auskunft darüber zu geben, was mit »erklären« gemeint sein könnte, bis zu waghalsigen Konstruktionen reicht, die alle möglichen Aspekte sozialer Wirklichkeit in Haftung nehmen, um Gewalt zu »erklären« – vom Neoliberalismus über Diskriminierungsverhältnisse bis hin zu globalen Nord-Süd-Disparitäten.

Das zentrale Problem der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung sehen wir somit darin, dass sie sich zu wenig mit ihren theoretischen Prämissen, Problemen und Perspektiven befasst und dabei versäumt, zur Frage der Erklärung klar Stellung zu beziehen. Ihr zentrales Problem besteht dagegen nicht darin, dass Gewalt, was auch immer der Begriff bezeichnen soll, per se unerklärlich ist. Ganz im Gegenteil. Auch wenn sich Regionen der Welt darin unterscheiden, welches Gewaltniveau in ihnen jeweils zu beobachten ist, handelt es sich bei Gewalt um ein alltägliches Phänomen. Sie ist damit nicht grundsätzlich anders zu behandeln als andere Alltagsphänomene auch. Gewalt scheint freilich ein Geheimnis in sich zu tragen, weil sie zumindest den Bürgern westlicher Staaten als absolute Ausnahme, als exotisches Phänomen, entgegentritt, sodass die Beschäftigung mit ihr – zumindest in der Öffentlichkeit – oftmals »obsessive« Züge trägt.[4] Das ist keine gute Basis für nüchterne Analysen. Gewalt als exotisch zu deklarieren, ist vielmehr Teil des Phänomens[5], vermindert jedoch die Chancen, sie zu begreifen und zu erklären. Genau hier wollen wir ansetzen.

Es besteht unserer Auffassung nach sowohl die Notwendigkeit als auch der Bedarf, sich explizit und systematisch mit der Erklärung von Gewalt zu befassen. Dazu gehört, sich mit Kausalzusammenhängen und dem Begriff der Kausalität zu beschäftigen. Die Gewaltforschung hat die Güte und die Grenzen ihrer explanatorischen Behauptungen bislang nur allzu selten ausgelotet. Der Frage, wie sich diese Lücke schließen ließe, widmet sich das vorliegende Buch, womit es auch den Anspruch erhebt, der Debatte um Gewalt neue Impulse zu geben.

[…]

Das Anliegen des Buches – und vier Thesen

Erklärung ist das zentrale Stichwort zur Charakterisierung der Problemstellung, um die sich das vorliegende Buch dreht. Unsere erste und schon genannte These ist, dass es in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung einen zu »lockeren« Umgang mit Accounts gibt, die offen beanspruchen oder auch nur verkappt den Eindruck erwecken, gewaltgezeichnete Phänomene zu erklären, dabei aber oftmals vernachlässigen, Prämissen und Probleme eines solchen Erklärens zu erörtern. Zuspitzend formuliert: Es gibt keine nennenswerte wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit Prämissen, Problemen und Perspektiven der Erklärung von Gewalt. Einige Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie stehen jedoch vereinzelt und bilden keinen systematischen Debattenzusammenhang.[12] Das Gros der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung tendiert also dazu, ihren Gegenstand so in den Blick zu nehmen bzw. das Phänomen der Gewalt so zu theoretisieren, dass dabei die zugrunde liegenden Kausalannahmen weitgehend im Dunkeln bleiben – mit negativen Folgen für die Überzeugungskraft und Plausibilität ihrer Argumente. Statt die eigenen wissenschaftstheoretischen Prämissen hinsichtlich ihrer Haltbarkeit zu reflektieren, verwenden die Beteiligten für gewöhnlich ihre Energie darauf, die materiellen Defizite konkurrierender Ansätze zu erläutern, um die eigene Position als überlegen darzustellen. Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings auch, dass wir in der jüngeren Gewaltforschung höchst unterschiedliche Aussagen finden, die ihre Urheberinnen und Urheber mehr oder minder umstandslos als valide Erklärungen von Gewalt ausflaggen, ohne dass der Status dieser Aussagen je geklärt worden wäre.

Damit verbunden ist unsere zweite These, nämlich dass die Rekonstruktion und Kritik von mehr oder weniger verkappten Kausalannahmen in sozialwissenschaftlichen Accounts über Gewalt sowohl theoretische als auch methodologische Potenziale für eine explizit erklärende Gewaltforschung erschließt. Das ist deshalb so wichtig, weil nach unserem Eindruck die soziologische Gewaltforschung gegenwärtig Gefahr läuft, theoretisch zu stagnieren. Die momentane Hegemonie eines recht heterogenen Situationismus, der mitunter durch eine interaktionszentrierte Mikrosoziologie der Gewalt dominiert ist,[13] neigt sich ihrem Ende zu.[14] Gleichzeitig ist keine ähnlich integrativ angelegte und in vieler Hinsicht inspirierende Perspektive mit allgemeintheoretischem Anspruch erkennbar, die darauf abzielt, zentrale Erklärungsprobleme der Branche zu bearbeiten.

Wichtige und theoretisch ambitionierte Arbeiten verweisen somit aktuell nicht wirklich aufeinander. Gewiss, ihre Autorinnen und Autoren, ihre Anhänger und Verteidigerinnen rezensieren und kritisieren sich wechselseitig. Unausgeleuchtet und somit nicht theoretisiert bleiben aber zentrale Fragen, denen sich eine jede empirische Forschung und nicht zuletzt die Gewaltforschung, stellen müsste. Dazu zählen maßgeblich solche, die sich in Alexandrines Account angedeutet finden, nämlich Fragen

  1. nach dem Zusammenhang von Kausalität und Erklärung,
  2. nach dem empirischen Verhältnis zwischen einzelnen Ereignissen und dem sie um- und übergreifenden Geschehen, das die Forschung für gewöhnlich mithilfe der Mikro-Makro-Semantik beschreibt,
  3. nach der explanatorischen Relevanz nicht nur von sachlichen Kalkülen und sozialen Beziehungen, sondern von Temporalität und Prozessualität.

Indem wir uns von diesen Fragen leiten lassen, beansprucht die vorliegende Schrift nicht, neue Theorien zur Analyse von Gewalt zu generieren. Auch glauben wir nicht, dass uns die Lösung explanatorischer Probleme in der aktuellen Gewaltforschung gelingt. Wir sind aber überzeugt, dass durch systematische Rekonstruktion bestehender gewaltsoziologischer Ansätze einige Schneisen durch die Forschungslandschaft geschlagen werden können, die trotz situationistischer Hegemonie recht unübersichtlich (geworden) ist. Ebenso sind wir überzeugt davon, dass wir über die Kritik bestehender Ansätze in plausibler Form für eine bestimmte Zugangsweise auf Gewaltphänomene plädieren können – für eine prozesssoziologische, wie wir zeigen möchten.

Wer hier jedoch erwartet, dass wir das mittlerweile recht groß gewordene Feld der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung bis in seine Verästelungen hinein untersuchen, den möchten wir an dieser Stelle bereits enttäuschen. Diese Aufgabe würde eine einzelne Autorin, auch ein Autorenduo, weit überfordern. Auch gehen wir nicht den Weg, die Gewaltforschung von einem bestimmten sozialtheoretischen Standpunkt aus zu rekonstruieren und zu bewerten, wie es einst Niklas Luhmann in ähnlich verfahrener Lage mithilfe der Theorie sozialer Systeme für die Verwaltungswissenschaft unternahm.[15] Und ebenso wenig werden wir versuchen, den Leserinnen eine eigene idiosynkratische wissenschaftstheoretische Position zum Problemkontext von »Erklären« und »Kausalität« aufzudrängen. Der Leitgedanke unserer Darstellung ist ein anderer. Ausgehend von der Annahme, dass uns die Verursachung sozialer Sachverhalte und Vorgänge analytisch zugänglich ist, fragen wir danach, wie die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung sich gegenwärtig mit der Verursachung ihres Untersuchungsgegenstands befasst, welche Probleme hierbei auftreten – und was sie daraus lernen kann.

Das vorliegende Buch zielt somit im Kern darauf ab, der soziologischen Gewaltforschung ihre explanatorischen Abwege, Lücken und Leerstellen zu spiegeln, insbesondere mit Blick auf oftmals unausgesprochene Kausalannahmen, die einflussreichen Studien in der Gewaltforschung zugrunde liegen. Wir möchten durch exemplarische Analysen aufzeigen und plausibel machen, an welchen Stellen sich derzeit wissenschaftstheoretische Problemlagen der Gewaltforschung auffinden lassen und welche Lösungsstrategien sich abzeichnen, was nach einer Sackgasse aussieht und was nach einem aussichtsreichen Pfad. Das soll dann die Basis bilden, um Vorschläge für überzeugendere Erklärungen von Gewalt machen zu können – und mag im besten Falle dazu beitragen, die drohende theoretische und methodologische Stagnation in der gegenwärtigen Gewaltforschung zu überwinden.

Das Schlüsselkonzept, das wir einerseits nutzen, um einschlägige Ansätze der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung systematisch zu rekonstruieren, ist das der Heuristik – wobei wir maßgeblich von Andrew Abbott und John Levi Martin inspiriert sind.[16] Mithilfe dieses Konzepts formulieren wir unsere dritte These, nämlich dass in der gegenwärtigen Gewaltforschung im Wesentlichen nur drei deutlich unterscheidbare Heuristiken, die wir mit den Stichworten »Motive«, »Situationen« und »Konstellationen« bezeichnen, zu finden sind, die alle beanspruchen, auf eine spezifische Weise erklärende Aussagen über ihren Gegenstand zu formulieren, auch wenn die betreffenden Autorinnen und Autoren ihr Tun selbst nicht immer klar explizieren. Jede dieser Heuristiken führt jedoch für sich genommen auf explanatorische Abwege, womit wir bei einer vierten These angelangt sind, nämlich dass die Alternative zu den drei genannten Heuristiken nicht in Mikro-Makro-Modellen, sondern in prozessualen Ansätzen liegt.

PDF-Download: 978-3-86854-966-9_Kap5 (Buchkapitel Temporalität und Timing. Grundzüge prozessualen Erklärens von Gewalt)


[1]

Wolfgang Stegmüller, Erklärung Begründung Kausalität. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 1, Heidelberg / Berlin 1983, S. 110–112; Tilly, Charles, Why? What Happens When People Give Reasons … and Why, Princeton 2006. zurück

[2]

Eddie Hartmann, Eddie, »Violence. Constructing an Emerging Field of Sociology«, in: International Journal of Conflict and Violence 11 (2017), 1, S. 1–9; Tobias Hauffe / Thomas Hoebel, »Dynamiken soziologischer Gewaltforschung«, in: Soziologische Revue 40 (2017), 3, S. 369–384; Thomas Hoebel / Stefan Malthaner, »Über dem Zenit. Grenzen und Perspektiven der situationistischen Gewaltforschung«, in: Mittelweg 36 28 (2019), 1–2, S. 3–14. zurück

[3]

Wir verfolgen das Ziel gendergerechter Sprache, indem wir bei der Benennung spezifischer Akteurs- oder Personengruppen wahllos zwischen den grammatischen Geschlechtern springen. zurück

[4]

Richard Bessel, Violence. A Modern Obsession, London 2016. zurück

[5]

Die Art und Weise, wie ein soziales Phänomen für gewöhnlich beobachtet wird, konstituiert es erst als solches; James Bogen / James Woodward, »Saving the Phenomena«, in: The Philosophical Review 97 (1988), 3, S. 303–352; dies., »Observations, Theories and the Evolution of the Human Spirit«, in: Philosophy of Science 59 (1992), 4, S. 590–611; siehe für ein Plädoyer, Gewalt als beobachterabhängige Konstruktionsleitung zu begreifen: Teresa Koloma Beck, »The Eye of the Beholder. Violence as a Social Process«, in: International Journal of Conflict and Violence 5 (2011), 2, S. 345–356. zurück

[…]

[12]

In chronologischer Reihenfolge zählen dazu Jörg Hüttermann, »›Dichte Beschreibung‹ oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklärungen«, in: Wilhelm Heitmeyer / Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt: Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt am Main 2004, S. 107–124; Schinkel, Aspects of Violence; Koloma Beck, »The Eye of the Beholder«; Ferdinand Sutterlüty, »Kollektive Gewalt und urbane Riots. Was erklärt die Situation?«, in: Axel T. Paul /Benjamin Schwalb (Hg.), Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg 2015, S. 231–256; ders., »Fallstricke situationistischer Gewaltforschung«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 14 (2017), 2, S. 139–155; Matthias Jung / Andy Reimann / Ferdinand Sutterlüty, »Narrative der Gewalt. Eine Einleitung«, in: Sutterlüty / Jung /Reimann (Hg.), Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main / New York 2019, S. 9–29; Loetz, »Gewalt in der Geschichte der Menschheit. Probleme, Grenzen und Chancen historischer Gewaltforschung«, in: Ferdinand Sutterlüty / Matthias Jung / Andy Reymann (Hg.), Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main / New York 2019, S. 87–114. Wir werden immer wieder auf die betreffenden Studien eingehen. zurück

[13]

Hauffe / Hoebel, »Dynamiken soziologischer Gewaltforschung«. zurück

[14]

Wolfgang Knöbl, »Jenseits des situationistischen Paradigmas der Gewaltforschung«, in: Ferdinand Sutterlüty / Matthias Jung / Andy Reymann (Hg.), Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main / New York 2019, S. 31–49; Hoebel / Malthaner, »Über dem Zenit«. zurück

[15]

Niklas Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft. Bestandsaufnahme und Entwurf, Köln / Berlin 1966; ders., Schriften zur Organisation, Bd. 1: Die Wirklichkeit der Organisation, Wiesbaden 2018, hier insbesondere die Texte in Teil 1 »Elemente einer allgemeinen Theorie der Verwaltung«. zurück

[16]

Andrew Abbott, Methods of Discovery. Heuristics for the Social Sciences, New York 2004; John Levi Martin, Social Structures, Princeton 2009. zurück

1 Kommentar

  1. […] den Beitrag „Gewalt erklären?“ auf sozialtheoristen.de von Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl  https://sozialtheoristen.de/2021/01/18/gewalt-erklaeren/ und weitergehend auf das Buch „Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende […]

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