Unfälle sind zu erwarten. Und doch irgendwie auch nicht. Erscheinen sie uns deshalb so vertraut wie unbekannt? Kleine Ortung.
Seit der Unfall (urspr. ungevelle, ungeval) buchstäblich in die Welt kam, ist die „konkrete Bedeutung“ des Wortes fall, wie der Duden etymologisch notiert, im Deutschen mit der Zeit „völlig verblasst“ (1997, S. 771, Sp. 1-2). Seit dem 15. Jahrhundert überliefert ist die enge Bestimmung eines schadhaften Ereignisses. Der englische accident indes trägt mehr Bedeutung, bezeichnet – wie früher im Deutschen – auch vor- und zufälliges und nebensächliches Geschehen. Das deshalb, da er wiederum auf (lat.) accidens gründet, womit sogar „Unwesentliches“, also etwas, das nicht gegebener und gewohnter Ordnung entsprechen kann, festgestellt wird. Besonders reichhaltig ist die Fülle im Spanischen. Der accidente gibt neben dem profanen Unfall einer Reihe verschiedener Abweichungen, Unterbrechungen und Irritationen sowohl der sozialen und der natürlichen Welt, von Medizin über Geografie bis Musik, einen Namen.
Erstmal etwas „dazu“ sagen
Wie so oft birgt Betrachtung von Herkunft und Verwandtschaft eines hochbetagten Wortes manch instruktive Mitteilung für die Gegenwart. Der größere, das heißt der überhaupt öffentlich werdende Unfall bringt unter den Bedingungen digitaler Kommunikation seine eigene Dramaturgie hervor. So urplötzlich das Ungemach aufziehen mag, so planvoll und routiniert kommen jene Verfahren in Gang, die primär (Rettung/Versorgung) und sekundär (Ermittlung/Bewertung) dessen Bearbeitung dienen. Der Breaking News-Modus jedweder Einführung in den Un-Fall, erzeugt durch Eilmeldungen und Sondersendungen, bedarf einer durchdachten Orchestrierung von Rekonstruktion (Hergang), Redundanz (Entfaltung) und Rationalisierung (Fortgang). Es geht darum, eine Form der „nächsten Bearbeitung“, der Anschlusskommunikation zu schaffen. Ein allgemeines Problem der Unfallberichterstattung besteht schließlich darin, dass gerade im Laufe ihrer dramaturgischen Steigerung, frisch am Ereignis, meist wenig konkretes zu sagen ist, aber doch vieles andere (wohl eben deshalb) dazu (additiv) gesagt werden muss. Kontinuitätssignale sind das Gebot der Stunde: Ist das Feuer zwar noch nicht gelöscht, ist der Wiederaufbau trotzdem schon beschlossen, sind die Spenden zugesichert und alle möglichen Zeichen der Machbarkeit exponiert.
Gleichwohl ist diese nächste Bearbeitung voraussetzungsvoller und folgenreicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Für Flugzeugabstürze, Zugentgleisungen, Schiffshavarien, Chemieunfälle oder Großbrände ist allererst eine Art „diskursives Durcheinander“ auszumachen. Allzumal dann, wenn heutigentags die mediale Beobachtung als Vor-Ort-Berichterstattung selbst durch eine unüberschaubare Echtzeit-Kommentierung über verschiedene Ausspielkanäle – meist in Abwesenheit, das heißt: mittels sozialer Medien – beobachtet wird. Das Unglück bleibt nicht mehr einer exklusiv redaktionellen Aufbereitung vorbehalten, es wird zu einem kollektiv mit-geteilten Ereignis strukturiert. Ein offensichtlich recht diffuses Anheften aller möglichen emotionalen Eindrücke, Regungen und Bekundungen um Notre-Dame in Paris über den Kurznachrichtendienst „Twitter“ bot dafür jüngst noch reichlich Anschauungsmaterial.
Die Suche nach der Entlastung
Dass solch intensive Beobachtungen zustande kommen, liegt – abgesehen von den gegebenen technologischen Möglichkeiten der Zeit – erheblich an der typischen Rahmung des „öffentlich gemachten“ Unfalls. Und diese ist sehr oft: organisatorisch. Die Kategorie des Unfalls in oder/und durch Organisation ist jene, die für Schlagzeilen Eignung verspricht. Das private Einzelschicksal, der „Normalunfall“ hingegen, ist allenfalls unter Vermischtem zu placieren. Das Licht der Öffentlichkeit bleibt ihm – ausgespart jene Fälle mit eigenwilligen kriminalen Kuriositäten und Eskalationen – in der Regel verwehrt oder gottlob (?) erspart. Erst der organisatorisch eingebundene oder bedingte Unfall taugt für Beobachtung größerer Störung. Er bewirkt gleichsam eine Enttäuschung gesellschaftlicher Erwartung – die für eine Organisationen stets Umwelt darstellt – in rational oder immerhin kontrolliert behauptete, wenn nicht „geglaubte“ Verfahren, Instrumente oder Technologien. Mit Unfällen büßen Organisationen auf einen Schlag ein gerüttelt Maß Legitimität ein. Ausgerechnet sie, die „Organisierten“, welche vorgeben alles im Griff zu haben, scheinen kläglich zu versagen.
Das moralische Urteil ist vielmals schon gesprochen, bevor jemand weiß, was tatsächlich geschah. In der Folge kommt es für Organisationen zu einem, wie der Luzerner Soziologe Sven Kette schreibt, „diskreditierten Scheitern“. – Eine Wertung, die nur graduell überzeugen kann, schließlich gibt es ansonsten wenige Fälle eines akzeptierten, anerkannten Scheiterns. Diese lokale „Totalzurechnung“, so Kette, diene im Weiteren der Entlastung Dritter bzw. der übrigen Gesellschaft: Nicht gleich eine Methode oder Technik insgesamt waren defizitär, sondern die Organisation hat sich bei der Anwendung geirrt oder schuldig gemacht; genauer vielleicht: das Personal der Organisation. Organisationen können dazu neigen, Verantwortung oder gar Schuld zu adressieren bzw. personalisieren, um hierüber eine Entlastung für die übrige Organisation (und ggf. für andere Personen) zu suchen.
Dass diesem Externalisieren von Leid und Last wiederum einige moralische Grenzen gesetzt sind, liegt auf der Hand. Gerade dann, wenn der Verdacht im Raum steht, man brauche Bauernopfer für die Anklagebank. Ob man nun Organisationen oder Personen zu „greifen“ versucht: Nachsicht oder mitleidige Indifferenz, wie sie in einfachen Interaktionen des Alltags gewährt werden können, haben in jedem Fall wenig Aussicht. Gewiss auch deshalb, da der organisatorische Unfall häufig einen Massenanfall an Verletzten und auch Toten mit sich bringt. Noch die unglaublichste Verkettung ungünstiger Umstände wirft die Frage auf, wer an welcher Stelle falsch, schlecht oder gar nicht entschieden haben könnte?
Noch im Unfall der nächste Unfall
Augenfällig wird dies gerade dann, wenn besonders symbolträchtige Artefakte, die Organisationen betreiben, verwalten oder hervorgebracht haben, vom einen zum anderen Moment ihre Fragilität offenbaren: vulnerable Verfahren, invisible Technologien, normalisierte Devianz, Pfadentwicklungen – das Forschungswissen über das „Vorleben“ großer Unfälle ist reichhaltig. Man denke also an eine altehrwürdige Kathedrale, deren Jahrhunderte währende Eleganz binnen einiger Minuten mehr fast verloren war, man denke an einen zermalmten Hochgeschwindigkeitszug im Heidesand, an den Untergang eines als unsinkbar beworbenen Luxusdampfers oder an eine Raumfähre, die sogleich nach dem Start verglüht. Hoher Takt und enge Kopplung, so legt die Forschung des US-Organisationstheoretikers Charles Perrow nahe, befördern in der Welt, in der wir leben, in unzähligen Variationen nahezu unvermeidbare technische Risiken („normal accidents“). So sehr man aber weiß, dass jederzeit das größte Unglück bevorstehen kann, so sehr ist jeder Schrecken aufs Neue Überraschung und Enttäuschung zugleich. Zumal die Örtlichkeit eine gewisse Rolle spielt: Zwar ist auf der Welt ja alles möglich, aber wohl nicht hier, nicht „bei uns“. Und kommt es doch zum Schlimmsten, muss neben aller Klage das Übel „zunächst einmal praktisch bewältigt werden“, wie Thomas Ribi in der Neuen Zürcher Zeitung im Blick auf die Erdbebenkatastrophe von Lissabon (1755) resümiert, die seinerzeit eine Abkehr vom Glaube an göttliche Strafe bewirkte.
Dennoch: Organisationen lassen sich, wie Erdbeben, Lawinen und Tsunami anzeigen dürften, nicht immer oder nicht unmittelbar verantwortlich machen; eher schon die Gesellschaft als Ganze. Unnatürliche Unfälle erlauben noch eine irgendwie geartete Zurechnung von Entscheidungen. Der Unfall ist hier gleichzusetzen mit „Desorganisation“, die der neuerlichen Re-Organisation bedarf. Dagegen ereignen sich natürliches Unheil, Kalamitäten und höhere Gewalt ohne identifizierbaren Entscheider, weithin ganz ohne nachvollziehbare Ordnung. Allerdings erfolgt die Zurechnung dann über die Art und Weise der Bewältigung der Folgen und künftiger Prävention. Auch ist hohes Engagement jener zu beobachten, die nicht als Verursacher der Katastrophe zu bestimmen sind, aber für Rettung und Hilfsleistungen als zuständig gelten. Ihre Entscheidungen können als Linderung und Eingrenzung oder gar Verstärkung und Verschlimmerung einer entstandenen Katastrophe registriert werden. Selbst im Unfall kann es zum Unfall kommen: Ein Waldbrand ist zu löschen, der Feuerwehrtrupp kommt darin um. Schon wird nach „falscher“ Entscheidung gefragt und wieder geht es um eine bestimmte soziale Angelegenheit, um: Organisation wie Karl Weick am Mann Gulch Fire, Montana 1949, zeigen kann.
Besonders unbekannt
Gibt es in Zeiten eiliger Erregung eine angemessene Form, Unfälle zu kommunizieren? Womöglich eine solche, die dem rein spekulativen Personalisieren von Schuld nicht die oberste Priorität beimisst. Und eine, die erinnert, dass Unfälle sowohl die Banalität des Zu-Falls in sich tragen als auch eine in der jeweiligen Form eher unwahrscheinliche Komposition aus vielem Einzelnen, auch „einfachen“ Fehlentscheiden, darstellen. Niklas Luhmann hat auf diese originäre Konstellation hingewiesen, wenn er von „akzidentellen Schädigungen“ spricht, „die als Zufall abgewickelt werden können“, als etwas, „mit dem niemand zu rechnen brauchte und auch weiterhin nicht zu rechnen braucht.“ (Soziale Systeme, 1984, S. 442) – Etwas ist besonders und doch ist es zugleich unwesentlich (wo man dem Unfall begegnet, trifft man wohl generell auf ein „Unwesen“), ja unbekannt. Die Erwartung des Unfalls erscheint seltsam amorph, doch, tritt er ein, findet sich nicht selten auch eine Adresse. Und einem Kunstband zur ICE-Katastrophe von Eschede (1998) ist zu entnehmen: „Zu jedem Unglück führt ein Weg, auf dem es vielleicht eine rettende Abzweigung gegeben hätte.“
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Das bedrückende Wissen um ausbleibende Antworten ist Teil aller tragischer Geschichten, die – einziger Trost – keiner gewollt hat. Gerade das lässt es dringlich erscheinen, an Zukunft zu denken, weiter zu machen und neu anzufangen. Beinahe so, als sei nicht gewesen, was Morgen schon wiederkehren könnte.
Aktualisiert am 08. Mai 2019
Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School Hamburg. Er unterrichtet Soziologie an der Universität Bielefeld, u. a. mit dem Schwerpunkt Organisationen und Unfälle/Katastrophen. Derzeit befasst er sich mit einer Forschung zum Wechsel der Radtechnologie am Intercity-Express der Deutschen Bahn in den neunziger Jahren, der schließlich zum Zugunglück von Eschede führte.