Immer noch mehr als nur Glaubensverwaltung

Der Fall scheint klar: Die Kirchen verlieren Mitglieder – nicht zuletzt wegen Skandalen und einem wachsenden Desinteresse am organisierten Glauben. Daneben schwindet die institutionelle Bindung in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft: in Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen. Doch „Kirche“ bezeichnet nicht nur eine übergeordnete Organisation, einen Apparat, sondern in erster Linie tatsächliche örtliche Gemeinschaft. Die interaktive Kraft der Kirche erweist sich insofern keineswegs als unmodern.

Konfession als Kontrast: Hier steht er wohl und auch woanders – der Reformator polarisiert beträchtlich und trotzt dennoch Wind und Wetter. Bild: IMAGO

 

Am Reformationstag vergegenwärtigt sich die evangelische Kirche mit Festakten ihre Geschichte und fragt, was die Reformation Martin Luthers, Johannes Calvins und Ulrich Zwinglis dem Glauben heute noch zu sagen hat. Das 500. Reformationsjahr 2017 ist noch in Erinnerung, hierzulande gefeiert als Lutherjahr. Nicht ohne Protest: zu viel Personenkult werde betrieben, zu geglättet sei der Umgang der Protestanten mit ihrem Begründer, heißt es. Fast in Windeseile bekamen die Norddeutschen gar einen neuen Feiertag, freilich wiederum nicht geräuschlos ohne Kritik.

In diesem Jahr feiert die reformierte Kirche der Schweiz „ihr“ 500. Jubiläum: und damit den Reformator Zwingli, seine Wirkung in Zürich und weit darüber hinaus. Auch die deutsche katholische Kirche will der Reformationsfreude längst nicht mehr fernbleiben. In vielen Gemeinden begeht sie das Reformationsfest in gemeinsamen Veranstaltungen mit den Protestanten; durchaus erinnerungsbewusst auch als Ausdruck der Versöhnung nach Jahrhunderten ärgster Konflikte und brutaler Kämpfe.

Gewiss, all die kirchlichen Feierstunden am Reformationstag mögen manchen selbstbezüglich erscheinen, als exklusive Events für Kulturprotestanten und Gewohnheitskatholiken. Doch bringen solche Ereignisse die Kirche noch ins Gespräch. Selbst die Jüngsten in den Sozialen Medien kennen den 31. Oktober nicht allein als Halloween. So werden unzählige Tweets Jahr für Jahr unter den Stichwörtern #Reformation/#Reformationstag/#Luther gesendet; und sei es zur Kritik der Kirche. Auch so ist sie ein Thema.

Kirchen im Legitimationsdruck

Ihr selbst ist allerdings gar nicht nur zum Feiern zu Mute, steht sie doch vor vielen Herausforderungen ihrer Rollenbestimmung innerhalb einer Welt, in der es nicht mehr selbstverständlich ist, Mitglied einer Konfession zu sein. „Volkskirchen“ werden sie hierzulande genannt. Kein anderes Indiz für die Verkleinerung der Volkskirchen wird so sehr bemüht, wie der Kirchenaustritt. Dazu kommen Sparzwänge, Gemeindefusionen, sogar Kirchenschließungen.

Was die Kirche erfährt, ist ein Prozess der Verorganisierung, wie es die Managementforscher Nils Brunsson und Kerstin Sahlin beobachten. Galten Kirchen traditionell als Institutionen, als soziale Selbstverständlichkeit, wird von ihnen heute eine starke Legitimation verlangt. Die Erwartungen, die an Kirchen gerichtet werden, gleichen denen gegenüber ganz „normalen“ Organisationen.

Ein Beispiel dafür liefern die Managementinstrumente, Strategie- und Reorganisationsprojekte, die aus der Wirtschaft stammen. In Zeiten rückläufiger Mittel und Nachfrage erscheint es nicht mehr akzeptabel, einfach zu sein, was man ist, sondern sich von Beratern erklären zu lassen, wie man werden müsse.

Reformstress und Reformstau

All das bleibt nicht ohne Widerspruch. Macht sich die Kirche nicht verwundbar, verliert ihren Charme, wenn sie sich auf Ratschläge für gutes Management verlässt? Der Braunschweiger Bischof Christoph Meyns resümiert, dass durch die neuen Managementkonzepte in der Kirche auch „relativ unwichtige, aber einfach zugängliche Maßstäbe in den Vordergrund treten und wichtige, aber nur schwer überprüfbare Faktoren aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geraten.“

Eine soziologische Analyse förderte zu Tage, was die Reformprobleme der evangelischen von der katholischen Kirche unterscheidet. Während die Protestanten ermüdet seien vor lauter Haushalts-, Verwaltungs- und Gebietsreformen, sie regelrechten „Reformstress“ erleben, verharre die römische Kirche im theologischen „Reformstau“. Hier sei Ohnmacht an der Basis und ein Rückzug in informelle Kirchenpraxis die Folge.

Geheimnis des Glaubens

Beides kann der Kirche nicht gut tun, Reformstress und Reformstau verdrängen, was die Kirche besonders macht: die sinnstiftende Qualität ihrer lokalen und globalen Gemeinschaft. In der Parochie, der örtlichen Gemeinde, wird Kirche vollzogen. In elementaren Interaktionen, Riten und Rhythmen. Es ist der Ort, an dem persönliche Nähe entsteht, ohne weiter organisiert werden zu müssen.

Die Gemeinde ist der Ort der Nähe und der Ferne, der direkten Verbundenheit und des weltumspannenden Glaubens, sie führt ihre Angehörigen ins Leben und aus ihm hinaus, sie stiftet Sinn für Präsenz und solchen für das Verborgene. Ein Wort der römischen Messe bringt es auf den Punkt: „Geheimnis des Glaubens.“

Unbestimmtheit der Religion ertragen

In einer modernen, das heißt weitreichend säkularisierten und ausdifferenzierten Gesellschaft, erscheinen religiöse Gemeinschaften als nahezu unwahrscheinliche Gebilde. Ungeachtet dessen ist nicht schön zu reden, was in der Kirche im Argen liegt. Nur gilt es Augenmaß zu wahren, die Organisation der Kirche nicht zu überschätzen und ihre Interaktion nicht zu unterschätzen.

Die Modernität des Glaubens fußt darauf, ihn weiter zu begehen, obwohl man die Gründe kennt, die dagegen sprechen. Der kirchlich „organisierte“ Gläubige ist nicht modern, weil er Religion hat, sondern: weil er immer noch fähig ist, ihre Unbestimmtheit zu ertragen.

Der Beitrag wurde in einer früheren Fassung im Deutschlandfunk Kultur gesendet. 

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