Der Fall scheint klar: Die Kirchen verlieren Mitglieder – nicht zuletzt wegen Skandalen und einem wachsenden Desinteresse am organisierten Glauben. Daneben schwindet die institutionelle Bindung in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft: in Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen. Doch „Kirche“ bezeichnet nicht nur eine übergeordnete Organisation, einen Apparat, sondern in erster Linie tatsächliche örtliche Gemeinschaft. Die interaktive Kraft der Kirche erweist sich insofern keineswegs als unmodern.
„Die Gesellschaft expandiert die Eskalation des Terrors“
Der Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle hat Erschütterung und Diskussion ausgelöst: über Ursachen, Verantwortung und Folgen. Abseits lauter Kontroverse ist der Terror auch ein Thema der Gesellschaftstheorie. Wie kommt es eigentlich, dass Terror sich in der modernen Gesellschaft regelrecht „festgebissen“ hat und sich gar noch weiter ausdehnt? Nach einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung führte die Northern Business School Hamburg (NBS) mit dem Soziologen Marcel Schütz das nachfolgende Interview.
Das Türaufhalten — Mapping a Day-to-Day ‚Incident‘
Das Türaufhalten — Mapping a Day-to-Day Phenomenon
»A young woman and a young man, total strangers to each other, simultaneously reach the closed classroom door. She steps slightly aside, stops, and waits. He positions himself, twists the handle, pulls open the door and holds it while she enters. Once she is safely across the threshold, he enters behind her.« (Walum 1974: 506).
Frau|Mann, alt|jung, höher-|niederstehende oder stigmatisierte|nicht-stigmatisierte Personen und eine räumliche Grenze, die Tür, die die Frage nach der privilegierten Seite jener alltäglichen Differenzen aufwirft. Das Türaufhalten als soziale Form markiert sich als höfliches Verhalten und vermittelt infolgedessen. Es kann daher in ein formales Schema der Höflichkeit eingeordnet werden (I), das auf einem Kraftaufwand beruht, der es als höfliches Verhalten erscheinen lässt (II). Als soziale Form ist das Türaufhalten auch als komplexitätsabsorbierende Interaktionssequenz analysierbar (III,V), die nicht zuletzt einer historischen Bedeutungsveränderung unterliegt, die sich insbesondere anhand der Geschlechterdifferenz aufzeigen lässt (IV).[1]
Von der notwendigen Unterscheidung von Gruppe und Organisation
Systeme lassen sich gerne von systemtheoretischen Soziologen über ihre Umwelt informieren, nehmen aber eher widerwillig soziologische Beschreibungen ihrer eigenen Systeme zur Kenntnis. Religiöse Organisationen lassen sich bereitwillig von der Soziologie über die Folgen einer neuen Familiengesetzgebung aufklären, empfinden die soziologische These, Religion sei „Opium fürs Volk“ jedoch nicht als informative Fremdbeschreibung, sondern als unverschämte Provokation. Organisationen, die sich dem Konzept des New Work verschreiben, lassen sich derweil gerne von Soziologen über veränderte Wertvorstellungen junger Erwachsener und deren Auswirkungen auf die Berufswahl informieren, hören sich aber nur widerwillig soziologische Beschreibungen über die klassischen Strukturprobleme enthierarchisierter und entformalisierter Organisationen an.
Evangelisch in epischer Breite – Interview: „Für Fontanes Erzählkonzept sind Pastoren prächtige Agenten“
Die Erzählwelt Theodor Fontanes ist auch eine der Dorfkirchen und Landgeistlichen. Werke wie „Unterm Birnbaum“ oder „Der Stechlin“ zeugen vom starken religiösen und theologischen Interesse ihres Schöpfers. Was aber hat den Dichter dazu bewogen, seinen literarischen Fokus immer wieder auf die Eigenheiten protestantisch-preußischer Provinz im ausgehenden 19. Jahrhundert zu legen? Der Theologe und Schriftsteller Reiner Strunk ist dieser Frage in einer Aufsatzreihe nachgegangen. – Ein Sozialtheoristen-Interview zum Fontanejahr.
Funktionale Regelverstöße und brauchbare Illegalität – Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen
Im Allgemeinen werden Regelabweichungen und Gesetzesbrüche in Organisationen als Problem betrachtet. Sie werden als „Verfehlung“, „Fehlverhalten“ (Wardi und Weitz 2004), „antisoziales Verhalten“ (Giacalone und Greenberg 1997), als „Sittenverfall“ oder gar als „Verbrechen“ bezeichnet (Greve et al. 2010). Gesprochen wird von den „schmutzigen Geschäften“ von Unternehmen (Punch 1996), dem „falschen Handeln“ in Organisationen (Palmer 2012) oder den „dunklen Seiten“ von Organisationen (Vardi und Wiener 1996). Die Organisationen, in denen solche Regelabweichungen und Gesetzesbrüche exzessiv zu beobachten sind, werden als „unzivilisierte Organisation“ (Andersson und Pearson 1999) oder als „Schattenorganisationen“ (Allen und Pilnick 1973) bezeichnet.[1]
Twitter als Teufelskreis: der Fall Frankfurt
Für Hetzer und Populisten hat der Unterschied von Psyche und Gesellschaft keine Relevanz. Der Frankfurter Fall offenbart das nur zu gut. Doch auch Gegenreaktionen haben ihre Tücken. Ist die Eskalation einmal in der Welt, erzeugt sie nur noch mehr davon. Ein Kommentar.
Positivierung und Formalisierung
Das Verhältnis der Erwartungsbildung in Staaten durch positives Recht und der Ausbildung von Erwartungen in Organisationen durch Formalisierung ist bisher theoretisch unzureichend beleuchtet worden. Aus einer systemtheoretischen Perspektive werden in diesem Artikel die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser „Rechtsbildung“ auf der Ebene des Staates und der Organisation näher untersucht. Anschließend an die Diskussion über die Frage der Verantwortung für Gesetzesverstöße aus Organisationen heraus, werden die unterschiedlichen Adressierungsversuche soziologisch eingeordnet. Dabei wird gerade im Gegensatz zur in der Literatur dominanten Annahme über Regeltreue in Organisationen argumentiert, dass es aufgrund der Verrechtlichung der modernen Gesellschaft nicht möglich ist, eine klare Trennung zwischen Verstößen gegen positivierte staatliche Gesetze und formalisierte organisationale Regeln vorzunehmen.
Zur Entstehung, Durchsetzung und Regulierung von Regelabweichungen
Organisationsmitglieder können sich auf der sicheren Seite wähnen, wenn sie sich sklavisch an organisationale Regeln und staatliche Gesetze halten. Schließlich geben sie Vorgesetzten keinen Grund für eine Abmahnung oder Kündigung, wenn sie sich an die formalen Regeln der Organisation halten. Organisationsmitglieder, die staatliche Gesetze genau befolgen, bieten des Weiteren keinen Anlass für Strafverfolgungen oder Zivilklagen und können sich deswegen auch offiziell keine Vorwürfe machen lassen. Aber warum – so die naheliegende Frage – gehen Organisationsmitglieder dann überhaupt das Risiko der Regelverletzung und des Gesetzesverstoßes ein?
Heuchelei statt Konflikt
Zur Wirkung von Moral in Organisationen[1]
Ein Beitrag für Cristina Besio und André Armbruster (Hg.) Organisierte Moral Wiesbaden: Springer VS 2020
In der Forschung wird davon ausgegangen, dass Moralkommunikation zu heftigen Konflikten führt, weil bei dieser immer persönliche Achtung oder Missachtung zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Artikel wird im Gegensatz zu dieser Annahme argumentiert, dass von der Organisationsspitze eingeführte Moralkampagnen in der Regel zu Heuchelei führen. Die über Hierarchie formalisierte Machtasymmetrie in den meisten Organisationen verhindert, so das Argument, moralisch geführte Konflikte und führt stattdessen zu einer oberflächlichen Anpassung der Organisationsmitglieder, an die von oben vorgegebenen moralischen Richtlinien. Weiterlesen →
Regelbuch statt Regelbruch
Zum Umgang mit unbrauchbarer Legalität in Organisationen[1] „Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren.“ Der Soziologe Heinrich Popitz (1968: 10)
Die ungewollten Nebenfolgen der verstärkten Durchsetzung von Regeltreue in Organisationen sind in den letzten Jahrzehnten umfassend herausgearbeitet worden. Dieser Artikel greift diese Forschung auf und ordnet sie theoretisch ein. Dabei wird gezeigt, dass als Reaktion auf das Bekanntwerden von Regelbrüchen und Gesetzesverstößen, Organisationen nicht nur mit Maßnahmen auf der Schauseite reagieren, sondern formale Veränderungen in den Kommunikationswegen, bei den Programmen und beim Personal vornehmen. Die Effekte dieser formalen Veränderungen sind eine zunehmende Bürokratisierung der Organisation, eine Zweck-Mittel-Verschiebung, bei der die Regeltreue immer mehr zum Selbstzweck wird und die Verlagerung der Kompetenzen zu den für Regelüberwachung zuständigen Stabsstellen. Weil sich viele Organisationen ein Scheitern aufgrund zu strikter formaler Regeln nicht leisten können, führt diese verstärkte Formalisierung zu informalen Ausweichbewegungen in Form von neuen Regelabweichungen. Effekt können bürokratische Teufelskreise sein, in denen die verstärkte Betonung der Formalität zu immer neuen informalen Umgehungsversuchen führt, auf die dann mit immer weiteren Verschärfungen formaler Vorschriften reagiert wird. Ein Effekt dieser bürokratischen Teufelskreise ist, dass sich das Wissen über Regelabweichungen immer mehr auf kleine durch informale Verschwiegenheitserwartungen geschützte Kreise beschränkt und damit für die Organisation insgesamt nicht mehr zugänglich ist. Weiterlesen →
„Organisation, Dauer und Eigendynamik von Gewalt“ – Veranstaltungsbericht zur Vortragsreihe der Forschungsgruppe ORDEX
Steht die aktuelle deutschsprachige Gewaltsoziologie an einem Wendepunkt? Diese Frage stellte sich die Forschungsgruppe ORDEX[i], und lud unter dem Titel „Organisation, Dauer und Eigendynamik von Gewalt“ im Wintersemester 2018/19 zum zweiten Mal zu einer Vortragsreihe nach Bielefeld ein, um dieser Frage in einem besonderen Veranstaltungsformat nachzugehen. Anlass dazu bot die Beobachtung, dass sich gegenwärtig neben dem vorherrschenden Trend mikrosoziologischer Arbeiten zunehmend neuere Ansätze etablieren, die neben oder auch zusätzlich zu einer rein mikrosoziologischen Perspektive auf Gewalt organisationssoziologische, prozesssoziologische oder auch gesellschaftstheoretische Argumente entwickeln[ii]. Wenngleich vermehrt innovative theoretische und methodische Zugänge gewählt werden, ist bisher kaum eine Diskussion über die Unterschiede dieser Zugänge entstanden. Ziel der vierzehntägig stattfindenden Vortragsreihe war es, diese aktuellen Perspektiven der Gewaltforschung zusammenzuführen und die teils zersplitterte Forschungslandschaft miteinander ins Gespräch zu bringen.Um statusgruppenübergreifende Diskussionen zu ermöglichen, wurden neben Professor*innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen auch Studierende eingeladen, die Ergebnisse ihrer Forschungen vorstellten und diskutierten. Dabei wurden die Vorträge in diesem Semester jeweils von einem Kommentar begleitet, der anknüpfende oder auch kritische Perspektiven zur Diskussion stellte.