Einhundert „Piraten zweiter Klasse“*

Vorhin gab es keinen Stream aus Münster vom Piratenparteitag zur Vorbereitung der Landtagswahl in NRW. Die Wahl der Landesliste soll geheim bleiben. Jeder Pirat vor Ort hat nun (bei dieser Etappe) 109 Stimmen, die er auf dem riesigen Wahlzettel frei verteilen darf.

Schon gestern den gesamten Tag, wie auch heute morgen, war der #lptnrw-hashtag bestückt mit Tweets, in denen sich die Piraten dafür rühmen, wie gut es läuft, wie transparent die Liste erstellt wird und wie wirklich jeder mitmachen und einblicken darf.

Hunderte Kandidaten bekommen eine Redezeit von 3 Minuten. Einige ziehen ihre Kandidatur sofort zurück, nachdem sie 30 Sekunden herumstammelten. Andere belassen ihre Vorstellung bei der Nennung ihres Namen. Andere versuchen eine Obama-Rede in Miniatur und viele lesen noch einmal ihre wichtigsten Anliegen vor.

Nun kann man zu den Begriffen Politik und Demokratie viel sagen. Man könnte der politischen Arroganz der Piraten („Ich tröste verwirrte Journalisten. Bei uns ist eben alles ein bisschen anders.“) eine sozialwissenschaftliche gegenüberstellen: Nein Piraten, auch bei euch bleibt es dabei. (1) Die Funktion der Politik ist die Bereitstellung der Kapazität kollektiv verbindlich zu entscheiden. (2) Demokratie ist das historisch erfolgreichste Politikmodell politische Enttäuschung zu minimieren. (Sie erzeugt Stabilität, ohne existenzbedrohend ressourcenverbrauchend zu sein. Im Kontrast dazu steht die Diktatur, die Munition und Arbeitskraft verbraucht, deliberative Demokratie, die endlos Zeit bindet oder Sakralherrschaft, die auf einen Gott und eine unbändige Natur angewiesen ist.)

Das Vorhaben, eine politische Entscheidung auf eine Art herbeizuführen, bei der man hinterher sagen kann: „Aber ihr wurdet doch alle gefragt und habt mitentschieden“ ist eine Möglichkeit der Legitimationserzeugung. Ihr Problem ist: Sie gelingt nicht automatisch und benötigt viel Zeit. Jedes Schüren von Erwartung erzeugt Enttäuschungspotenziale. Und die Piraten Schüren viel. Wenn 150 Menschen auf 40 Posten wollen, werden über einhundert von ihnen enttäuscht, und zwar von denjenigen, für die sie sich aufopfern.

Braucht man überhaupt eine Partei, wenn sie nicht die Funktion erfüllt politisches Potenzial zu bündeln und zu kanalisieren? Wenn sie nicht in der Lage ist politisches Talent vor einer Wahl zu testen? Braucht man eine Partei, in der nach einer Entscheidung noch mehr über Alternativen diskutiert wird als vor ihr?

Die Piratenpartei steckt in einem strukturellen Konflikt, den sie selbst gar nicht auflösen kann. Es gibt sie nur, weil man nur per Partei, nur als Organisation, am politischen Kampf um parlamentarische Macht teilnehmen kann. Das führt nun zu dem interessanten Paradox, dass individuelle Freiheitskämpfer, die die Gesellschaft politisch mitgestalten wollen, auf eine Partei angewiesen sind, die den Anspruch hat, nach einer Entscheidung mitzubestimmen. „Kein imperatives Mandat“ sagt die Partei, sagt das Gesetzt. Doch die Parteistruktur sagt es genau anders: Partizipation und Transparenz.

Die politische Logik der Piratenpartei lautet: Ihr könnt unsere Listenplätze haben, aber wir vertrauen euch nicht, wir kontrollieren euch. Wer nicht spurt wird rausgemobbt. Ein Shitstorm ist kein Risiko eines Kandidaten, sondern ständige Gefahr durch die Partei. Sie lähmt. Es ist wie Christopher Lauer sagte: „Wir reden viel über Transparenz und Bürgerbeteiligung. Was es für uns konkret bedeutet haben wir nicht definiert.“ Eigentlich ist es schlimmer: Denn über Legitimation – dieser, nicht der Demokratiebegriff, fasst das eigentliche Problem – ließt man gar nichts von der Piratenpartei.

Dabei sind die Testfragen so einfach: Wenn Hunderte Piraten jeweils über 100 Stimmen haben, um ihre Landesliste zu füllen, hat man eine Aufgabe, die sich Mathematisch ganz wunderbar lösen lässt. Man muss nur zählen können. Aber: Wer übernimmt die Verantwortung? Wer ist Schuld, wenn alle mitmachen?

Die Piraten wollen über Politik aufklären, aber sie erklären ihre Partei nicht. In den Tagen und Wochen bis zum 13. Mai wird sich zeigen, wie die Piratenpartei mit den hundert „Piraten zweiter Klasse“ umgeht, die sie dieses Wochenende hinterläßt. Damit wird zumindest eine der vielen Fragen behandelt, die die Gesellschaft bis zur nächsten Bundestagwahl hat.

***

Joachim Paul gratuliere ich zu seiner neuen Rolle als Landeslistenerster. Dass jemand gewählt wurde, der auch in der Lage ist, gegen irre eher piratennahe Vorstellungswelten zu argumentieren, zeigt, dass die Piraten nicht nur enttäuschen, sondern auch überraschen können.

(*so gehört bei Frank Rieger.)

(Bild: Reto Fetz)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

7 Kommentare

  1. Sehr gute Analyse. Schließt gut an meinen Text zu den Piraten an, finde ich. Das Problem wird sein, ob die Piraten Loyalitäten erzeugen können, also ein Bewusstsein über eine gemeinsame Identität. Die entwickelte sich bei den Grünen aus der Subkultur der 70er Jahre und führte zu einer Milieu-Bildung, die in den Babyboomer-Jahrgängen hegemonial geworden war. Das bedeutet im Parteibildungsprozeß, Fraktionierungen und Seilschaften im Zuge von Professionalisierungsprozessen zu entwickeln. Der entscheidende Motor im Professionalisierungsprozeß der Grünen ist oin den Kommunalparlamenten zu finden. Das gilt übrigens auch für die Linke in Ostdeutschland. Dort sitzen (halb-)professionelle Akteure, die zu pragmatischen Entscheidungen sozialisiert werden. Dieser Druck erzeugte bei den Grünen die Dominanz der Realos, weil mit Fundi Positionen keine Politik gemacht werden kann. Den Piraten fehlt das Milieu (wäre übrigens zu untersuchen) – und noch der kommunale Unterbau, der bekanntlich seine eigenen Karrieremöglichkeiten bietet.Die Ausdifferenzierung der Organisation sorgt also für die Reduzierung von Enttäuschungen. Denke mir, diesen Aspekt sollte man bedenken.

  2. Hans Hütt sagt:

    Mir gehen mehrere Fragen durch den Kopf:
    – Wem werden Erfolge zugerechnet?
    – Wem Misserfolge?
    – Wer hält den Kopf hin?

    Die Fragen leiten sich ab von den Rekrutierungsproblemen der alten Parteien und dem Versuch, durch Kooptation externer Kandidaten die Organisation anschlussfähig für nicht oder nur unzureichend organisierte Interessen und Kompetenzen zu werden.

    Das Rigorosum, der Shitstorm oder die Kooptation durch die Führung mit der Botschaft an die Basis, ihr könnt kotzen soviel ihr wollt, Kirchhoff (oder Schröders Kandidat 1998, wie hieß er noch?) führte schon vor dem Wahltag zur völligen Demontage der Externen. Das heißt, die Piraten realisieren ohne Stallgeruch und Ochsentour und Selektion durch Praxis ihre ersten Reihen. Die alten Parteien tun es mit allem. Sind Mißfelder oder Bosbach Beispiele dafür, das beizubehalten?
    Oder die miserable Performanz in Münster ein impliziter Anstoß für jeden, der die Fähigkeiten dazu hat, besser zu werden?
    Weder die Verfahren der Auswahl noch die Ergebnisse der NRW-Liste werden das letzte Wort sein. Haase hat ja schon von außen Empfehlungen für die ersten vier Plätze getweetet. Erscheint durch solchen Adhocratismus die Praxis eines informellen Politbüros? Oder wie konditioniert sind die Affekte der Basis, das zu ignorieren oder sich darüber zu empören?
    Eine letzte Vermutung: Die Geschichte der Grünen wird als Vergleich nicht lange mehr taugen. Sie waren – auf allen drei politischen Lagerseiten – längst politisch sozialisiert, routinisiert.
    D.h. die Piraten begehen ihre eigenen Fehler, lernen vielleicht daraus viel schneller.

  3. Stefan Schulz sagt:

    Ja, aber falls es stimmt, dass die Piraten derzeit vor allem von den Enttäuschungen der anderen Parteien profitieren – das soll hier nur als These stehen -, wäre es gut, wenn die Piraten nicht nur lernen, sondern diesen Lernprozess auch reflektieren, explizieren, dem interessierten statt nur enthusiastischen Teil der Deutschen zeigen, dass es keinen Grund für Sorgen gibt. Es sieht derzeit so aus, als wären die Piraten genauso überrascht wie ihr Publikum. Oder steuern wir jetzt auf direktem Weg ins Paradies? (assoziiert, nicht argumentiert)

  4. Wo alles transparent wird, verschieben sich die Entscheidungsprozesse in informelle Netzwerke. Das war auch bei den Grünen so gewesen. Das Argument mit der politischen Erfahrung der Alt-Linken und Gruhl-Rechten ist ein gutes Argument. Aber Schirrmacher hat darauf heute hingewiesen: Es gibt Übertritte aus anderen Parteien, wobei es sich dabei auch um eine Art Negativauslese handeln kann. Müsste man sich ansehen. Die Frage ist aber, ob die Piraten einen Policy Entwurf hinbekommen, der sie einen eigenständigen Platz im deutschen Liberalismus sichert. Dafür brauchen sie Intellektuelle, die keineswegs in der Partei sein müssen, aber die Vorarbeit liefern. Bis auf Weiteres haben sie aber einen kulturellen Unterbau, der mit dem Begriff „Nerds“ hinreichend beschrieben werden kann. Netzpolitik ist also das, was bei den Grünen Ökologie gewesen ist. Allerdings wird das nicht für Piraten-spezifische Milieus ausrecihen, so mein bisheriger Eindruck. Aber daraus rekrutieren sie ihre Aktivisten. Die politisiert zu haben, ist ihr bisheriger Verdienst. Und dann ist man immer begeistert, wenn die Politik nicht wie eine Ochsentour erscheint, sondern man quasi mit einer großen Welle in die Parlamente gespült wird.

  5. Stefan Schulz sagt:

    Sehe ich absolut genau so! Der Platz im Liberalismus (es gibt ja eine korrespondierende Entwicklung mit der FDP), der kulturelle Unterbau, die Selbstbeschreibung und die Begeisterungs- & Rekrutierungsfähigkeit sind die Merkmale, die interessant sind und werden. Die Piraten wissen auch nicht, wie ihnen geschieht. (Sie können aber etwas aus dem Lauf der Entwicklungen machen. In mancher Hinsicht erinnert die Stimmung an Obama 2008. Das Enttäuschungspotenzial ist rießig.)

  6. „Die Piraten wissen auch nicht, wie ihnen geschieht.“

    Interessanter Satz. Im Gegensatz zu früher ist man heute viel schneller zur Selbstreflexion gezwungen. Die Folgen müssen aber keineswegs positiv sein, weil Parteien unter anderem davon leben, dass sie ihre Umwelt auch ignorieren können. Die SPD hätte sonst nicht so lange überlebt. Man muss sie sich nur zwischen 1919 und 1957 ansehen.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.