Wenn Regeln eingeführt werden, dann sollen sie meistens Klarheit schaffen: Kommunikationsregeln für Mitarbeitende im Außendienst sollen die Außendarstellung vereinheitlichen; Kernarbeitszeiten Erreichbarkeit gewährleisten; Verfahrensregeln klarstellen, welche Schritte die Mitarbeitenden im Bürgeramt bei der Erstellung eines Personalausweises beachten müssen. Doch nicht immer schaffen Regeln die erhoffte Klarheit. Im Gegenteil können sie sogar zu neuer Unklarheit führen. Dass 1400-seitige Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich stellt zwar vieles klar, ist für den rechtlichen Laien aber nur schwer nachzuvollziehen.[1] Dort wo Regeln nicht mehr überschaubar werden, entsteht, so meine These, Regellosigkeit. Das erscheint Paradox, wie sollen Regeln, die das Ziel haben Klarheit und Eindeutigkeit herzustellen, Regellosigkeit schaffen?
Mit Holacracy zur Purpose Driven Organization? Über die Grenzen eines Organisationsmodells
New work, new leadership, new culture – Im aktuellen Management-Diskurs dreht sich alles um die angebliche Neuartigkeit aufstrebender Arbeitsformen. Teil dieses Hypes ist zweifelsohne auch Holacracy. Das von Brian Robertson entwickelte Organisationsmodell stellt den Purpose einer Organisation ins Zentrum. Die Menschen machen Platz für eine neue Form der Zweckrationalität. Doch ist Holacracy wirklich besser als andere Organisationsformen geeignet, einem Oberzweck vollumfängliche Bedeutung für alles Handeln in der Organisation zu verleihen?
Was passiert, wenn Organisationen ihren Purpose ernst nehmen? Anspruch und Widerspruch im holakratischen Modell
Bei keiner angesagten Managementmode fehlt die Zelebrierung des Purpose – eine Missionserklärung der Organisation, in der die Menschen ihre Wertüberzeugungen wiederfinden können. MitarbeiterInnen nur über ein Gehalt zur Arbeit zu motivieren, ist in der aktuellen Managementdiskussion von gestern. Vorreiterunternehmen setzen darauf, dass ihre Mitglieder sich mit der Organisation und ihrer Tätigkeit identifizieren können. Holacracy fällt in der Landschaft populärer Organisationskonzepte auf, weil neben dem Purpose für eine weitgehende Formalisierung der Organisationsstruktur geworben wird. Solche Konzepte wollen sich in aller Regel von der Trägheit formaler Strukturen verabschieden. Dahingegen rücken die Holakratie-VertreterInnen in fast organisationssoziologischer Manier den Unterschied zwischen Role und Soul, zwischen formaler Rolle und Person in den Mittelpunkt ihres Modells. So kann an der Holakratie sehr genau gezeigt werden, wie Identifikation mit dem Purpose mit der Trennung von formaler Rolle und Person in Organisationen zusammenhängt. Weiterlesen →
Die Blinden Flecke einer prozesssoziologischen Gewaltforschung
Der aktuelle Turn in der Gewaltforschung besteht in der Ausrufung einer Prozessperspektive. Die Klage ist, dass die Zeitdimension bisher unterschätzt wurde und deswegen die Entwicklung einer prozessualistischen Alternative notwendig wäre. Die Promotoren dieses Ansatzes – Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl – sprechen selbst von einer neuen „Heuristik“, aber es ist unverkennbar, dass es um einen neuen Turn geht. Während die beiden Prozesssoziologen sich in der Einleitung ihres als Plädoyer für eine neue Gewaltforschung angelegten Buches noch auffällig bescheiden präsentieren – es ist die Rede davon, dass der Ansatz nicht beanspruche, „die Lösung explanatorischer Probleme in der aktuellen Gewaltforschung“ zu sein oder „neue Theorien zur Analyse von Gewalt“ zu generieren (Hoebel und Knöbl 2019, S. 15) –, wird der Anspruch im Laufe der programmatischen Schrift immer höher getrieben.[1] Am Ende des Buches wird für Prozesse als eine neue Zentralkategorie der Gewaltforschung plädiert. Gar nicht mehr bescheiden ist dann die Rede davon, dass die „temporale Ordnung“ „den entscheidenden Ansatzpunkt“ darstellt, um Gewalt erklären zu können.[2] Eine prozessuale Perspektive hätte, so die Aussage, ein „inklusive[s] Potenzial“, um alle anderen Argumente „aufzunehmen und weiterzuentwickeln“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 199).[3] Im Folgenden sollen drei blinde Flecke dieses prozesssoziologischen Zugangs aufgezeigt werden. Weiterlesen →
Die Renaissance des Maschinenmodells
Die Vorstellung von einem Betriebssystem der Organisation
Aufschlussreich ist, dass die Holakraten ihr Organisationsmodell als ein „selbststeuerndes Betriebssystems“ für Organisationen beschreiben (Robertson 2015).[1] Es ginge – so die Suggestion der Software-Metapher – darum, ein System zu entwickeln, das die basalen Regeln des Zusammenspiels zwischen einzelnen Komponenten definiert. Ein Betriebssystem lege nicht fest, welche konkreten Programme darauf aufsetzen, beeinflusse aber maßgeblich deren Abläufe. Wenn es nicht gelinge ein funktionierendes Betriebssystem zu entwickeln, funktionierten – so die Implikation – alle Programme nur langsam, instabil und fehleranfällig (so die Darstellung bei Mitterer 2015). Doch was für ein Organisationsverständnis steckt hinter diesem Konzept eines selbststeuernden Betriebssystems? Weiterlesen →
Was ist das Besondere an der holakratischen Formalisierung? – Einblicke in neue Formen der Formalisierung in Organisationen
Während in klassischen Organisationen die Veränderung von formalen Strukturen durch den Neuzuschnitt von Abteilungen oder die Neudefinition von Prozessen häufig ein langwieriger Vorgang ist, befinden sich – so jedenfalls das Postulat der Vertreter:innen neuer Organisationsformen – die formalen Strukturen sogenannter holakratischer Organisationen in einem permanenten Veränderungsprozess. Purpose-driven und spannungsgeleitet können im sogenannten Governance Meeting je nach Umweltanforderung beispielsweise neue Kreise gebildet oder Rollen durch das Ergänzen oder Entfernen von Zuständigkeiten modifiziert werden. So entsteht eine formale Ordnung, die sich, um es salopp auszudrücken, in einem permanenten Fluss befindet und von allen Organisationsmitgliedern stetig mitverfolgt werden kann.
Formalisierung als Erfolgsrezept
Wie durch Bürokratisierung versucht wird, die Ausbildung von Abteilungen und Hierarchien zu verhindern
Die Kritik am klassischen bürokratischen Organisationsmodell ist im Wesentlichen durch drei Stoßrichtungen gekennzeichnet: Erstens wird kritisiert, dass sich Abteilungen voneinander abschotten und deswegen jede Abteilung nur ihrer eigenen Logik folge. Weil die Mitarbeiter in der Regel nur Mitglied einer Abteilung sind, würde ihre Perspektive durch die Ausrichtung der Abteilung geprägt und so bilde sich eine stark verengte Sichtweise aus. Zweitens wird herausgestellt, dass die hierarchische Grundstruktur zu Informations- und Motivationsverlusten führe. Mitarbeiter weiter unten in der hierarchischen Pyramide bekämen nicht die nötigen Informationen, um die Sinnhaftigkeit ihrer Aufgaben zu erfassen und diese in der nötigen Sorgfalt durchzuführen. Drittens wird kritisiert, dass Organisationen an einer bürokratischen Überregulierung zu ersticken drohen. Um die Arbeit zwischen den Abteilungen zu koordinieren und die Kontrolle durch die Hierarchie zu gewährleisten, würde eine Vielzahl von Verhaltenserwartungen an die Mitarbeiter gestellt, die häufig nicht den Anforderungen der Organisation entsprechen (siehe für einen soziologisch informierten Überblick zu diesen Kritikpunkten Heydebrand 1989).
Zu den Abgrenzungsfolien einer prozesssoziologischen Gewaltforschung
Dieser Text ist eine Reaktion auf den Beitrag „Gewalt erklären?“ auf sozialtheoristen.de von Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl https://sozialtheoristen.de/2021/01/18/gewalt-erklaeren/ und weitergehend auf das Buch „Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie“ (Hamburg: Hamburger Edition, 2020). Es ist ein erster Aufschlag für eine Diskussion, die wir in den nächsten Monaten auf sozialtheoristen.de führen wollen. Kolleginnen und Kollegen sind herzlich eingeladen sich nicht nur mit Kommentaren zu beteiligen, sondern auch eigene Beiträge auf sozialtheoristen.de beizusteuern. Bei der Publikation eines Textes auf sozialtheoristen.de helfen gerne Thomas Hoebel (thomas.hoebel@his-online.de) oder Stefan Kühl (stefan.kuehl@uni-bielefeld.de), bei technischen Fragen des Hochladens Alexandra Boldys (sekretariat.kuehl@uni-bielefeld.de).
Gewalt erklären?
Vorbemerkung – Der hier wiederabgedruckte Text ist ein Auszug aus dem Buch Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie von Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl, 2019 erschienen in der Hamburger Edition. Es handelt sich um Teile der Einführung, außerdem hängt unten ein PDF des fünften Kapitels Temporalität und Timing. Grundzüge prozessualen Erklärens von Gewalt an. (Wir danken dem Verlag Hamburger Edition für die freundliche Genehmigung.) Zusammen mit der Kritik von Stefan Kühl soll die Veröffentlichung bei den Sozialtheoristen ein Gespräch fortsetzen, das im Wintersemester 2020/21 in einem Forschungskolloquium an der Universität Bielefeld begonnen hat, und herzlich dazu einladen, mit in die Diskussion einzusteigen. Wer sich nicht nur mithilfe der Kommentarfunktion, sondern mit einem eigenen Beitrag beteiligen möchte, kann sich dafür sehr gerne an Stefan Kühl oder Thomas Hoebel wenden.
Zum Hype um den Purpose. Weswegen Distanz der Mitglieder zur Organisation hilfreich sein kann
Immer mehr Unternehmen gehen dazu über, ihre Mitarbeiter nicht mehr ausschließlich über finanzielle Anreize, Druck oder bestimmte geschickte Führungstechniken zu motivieren. Stattdessen werden Mitarbeiter angeregt, sich verstärkt mit „ihrem“ Unternehmen und mit „ihren“ Produkten zu identifizieren. Gerade die sogenannten Vorreiterunternehmen verkünden, dass „Geld allein nicht motiviert“, sondern ein gutes Arbeitsklima und eine Identifizierung der Mitarbeiter mit den Prozessen wichtig sind. Arbeitsaufgaben und Verantwortungsspielräume der Mitarbeiter werden so umfassend gestaltet, dass es diesen leicht fällt, sich mit den Zwecken der Organisation zu identifizieren. Sie sollen begreifen, dass es Spaß machen kann, in Selbstorganisation Qualitätswaagen herzustellen oder Fertigbackmischungen zu verkaufen.[1]
Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen
Regelabweichungen und Gesetzesbrüche in Organisationen werden im Allgemeinen als Problem betrachtet. Sie werden als „Verfehlung“, „Fehlverhalten“, „antisoziales Verhalten“, als „Sittenverfall“ oder gar als „Verbrechen“ bezeichnet. Gesprochen wird von den „schmutzigen Geschäften“ von Unternehmen, dem „falschen Handeln“ in Organisationen oder den „dunklen Seiten“ von Organisationen. Die Organisationen, in denen solche Regelabweichungen und Gesetzesbrüche exzessiv zu beobachten sind, werden als „unzivilisierte Organisation“ oder als „Schattenorganisationen“ bezeichnet.
Der Prinz-von-Homburg-Effekt. Was man von Heinrich von Kleist über die Skandale bei Wirecard, VW und FIFA lernen kann
Wenn wieder einmal eine Organisation wegen eines Umweltverstoßes, Schmiergeldskandals oder einer Finanzmanipulation in der öffentlichen Kritik steht, lohnt sich ein Blick in das klassische Theaterstück des Dramatikers Heinrich von Kleist über die Befehlsverweigerung des Prinzen Friedrich von Homburg. Kleist, der selbst in seiner Jugend als Leutnant in der preußischen Armee gedient hatte, konfrontiert in diesem Theaterstück seinen Helden mit allen Tücken einer erfolgreichen Regelabweichung. Die Geschichte ist denkbar einfach. Der Prinz von Homburg dient als General der Reiterei in der Armee des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Vor der Schlacht gegen die schwedischen Truppen erteilt der Kurfürst seinen Generälen den Befehl, den Feind nur nach ausdrücklicher Anordnung anzugreifen – jeder solle, „wie immer auch die Schlacht sich wenden mag, vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen“. Der oberste Befehlshaber der Armee verpflichtet die Organisation und all ihre Mitglieder auf strikte Gefolgschaft und Einhaltung der Befehlswege.